Digital Religion(s): Der Blog

Der „Pfarrer aus Plastik“: Ein Gespräch über seelsorgliche Authentizität auf Instagram

3. November 2022 | Fabian Winiger | Keine Kommentare |

Nach dem Abitur die Sinnkrise, dann der Entscheid zum Theologiestudium. Bald fand er sich in einer Kirche, die wenig Verständnis für seinen Lebensstil hatte. Pfr. Nicolai Opifanti hörte lieber Rapmusik als fromme Kirchenlieder, fuhr im Audi zur Predigt, trug weisse Turnschuhe unter dem schwarzen Kittel und sprach ein dickes Schwäbisch, gespickt mit Anglizismen und erlesenen „Vulgaritäten“ – wie ihm „der Mund gewachsen“ war eben. Opifanti war zugleich Kumpel und Pfarrer. Ohne kirchliche Prägung im Elternhaus und befremdet von der hochgestochenen Sprache in seinem neuen Umfeld fühlte er sich aufgeschmissen. Opifanti fand sich in einer profund christlich sozialisierten Gesellschaft, deren Werte er teilen wollte, aber deren sozialer Klasse er fremd war.

Bald begann er, auf Instagram nicht nur Fussballmatches, Autos und Konzerte zu zeigen, sondern auch zu predigen. Opifanti wurde zum Internetseelorger, zum „Pfarrer aus Plastik“, wie er sich bald nannte. Sein Stil war nicht jedermanns Sache. Aber gerade darum ging es: um diejenigen, die glauben wollten, wenn es denn nur nicht verkopfte Andachten in stickigen Mauerbauten bedeuten würde. Falls die Szene der deutschen Internetpfarrer:innen einen Hinweis bietet, ist dies eine beachtliche und wachsende Demografik. Der Pfarrer aus Plastik, klingt das Echo in den sozialen Medien, macht Predigt geil.

Geschickt bedient sich Opifanti dabei einer der beliebtesten Plattformen, die das Internet zurzeit zu bieten hat: Instagram. Von Jugendlichen dazu verwendet, sich mit stilisierten Idealbildern zu vergleichen, während ausgefeilte Algorithmen Werbung für Kosmetik und Statusprodukte einspielen, ist Instagram mittlerweile als Instrument der Marketingindustrie verdächtig. Narzisstisch, geltungssüchtig, konsumorientiert und letztlich depressiv mache es uns1. Ganz im Gegensatz dazu schafft Opifanti einen Raum, in dem er als Geistlicher authentisch auftreten und abseits kirchlicher Erwartungen auf Augenhöhe auftreten will. Mit über 11,000 Followers zählt der „Pfarrer aus Plastik“ (@pfarrerausplastik) unterdessen zu den bekanntesten Seelsorgern in der deutschen Sinnfluencer-Szene. Seine Anstellung bei der evangelischen Landeskirche Württemberg teilt er heute hälftig zwischen herkömmlicher Betreuung seiner analogen Kirchengemeinde und seinem Instagram-Account auf, den er mit seiner Kollegin Pfr. Sarah Schindler (@sarahs_glanzundgloria) betreibt. Gekonnt schlagen sie den Bogen zwischen tiefschürfender theologischer Sinnsuche und der alltäglichen Realität eines spätkapitalistischen Proletariats – dem „hedonistischen Milieu“ Stuttgarts, zu dem Opifanti sich zählt, und zu dem er heute – demonstrativ breitbeinig – stehen will. Pfr. Opifanti, einst Aussenseiter, verwirklicht einen uramerikanischen Traum: er hat es „geschafft“2. Wie ein prominent platzierter Post im Juni 2022 bezeugt:

Sie haben gesagt „als Pfarrer trägt man schwarze Schuhe unterm Talar“ –
heute kommen 70-Jährige nach dem GoDi zu mir und zeigen mir ihre Sneaker.
Sie haben gesagt „Pfarrer auf Instagram dafür wird es nie ne Stelle geben“ –

heute darf ich als Pfarrer hier mit Euch unterwegs sein.
Sie haben gesagt „als Pfarrer muss man singen können“ –

heute krächz ich fröhlich vor mich hin und freu mich darüber, dass andere diese Gabe haben.
Sie haben gesagt „Pfarrer müssen im Pfarrhaus wohnen“ –

heute wohn ich zur Miete in nem Mehframilienhaus.
Sie haben gesagt „Pfarrer fahren keine schnellen Autos“ –

heute überhol ich die Vertreter auf der linken Spur.
Sie haben gesagt „Pfarrer müssen immer politisch korrekt sein“ –

heute mach ich solche Posts.
Sie haben gesagt „Pfarrer hören Bach“ –

heute pumpt in den Seminaren Bonez und Bra
Sie haben gesagt „Kirche ist für junge Menschen uninteressant“ –

heute sitzen meine Kolleg*innen bei @funk @vox und @aufklo
Sie haben gesagt „mit ner Rechtschreibschwäche kommst du nie durchs Studium“ –

heute korrigier ich Hausarbeiten für das Examen
Dieser Post ist für alle, die überlegen Pfarrer*in zu werden und die sich fragen, ob sie mit ihren Vorstellungen, Ideen, Lebensstilen und Schwächen zu diesem Beruf passen. Hört nicht auf das, was „sie“ Euch über diesen Beruf erzählen, hört lieber darauf, was Euer Herz Euch sagt und lebt Euren Traum von Kirche🤙🏼

Wir sprechen mit dem Pfarrer aus Plastik über Authentizität im Internet – auf Züridütsch, Schwäbisch und Steirisch.

Post von Nicolai Opifanti auf @pfarrerausplastik, 28. Juni 2022.

Fabian Winiger: Nicolai, einst haben Sie im Internet nicht nach religiösen Inhalten gesucht. Sie hatten einen Eifer für den Atheismus, fast stärker als Sie ihn jetzt für das Christentum verspüren. Dann kam ein Bekehrungserlebnis. Was geschah da?

Es gibt immer wieder Berichte von Menschen, die irgendwie auf einen Schlag geändert wurden. So war das bei mir nicht, mir sind keine Engel erschienen oder ein Lichtstrahl, der mir gesagt hat: „Kehr um!“ Das wäre auch cool gewesen, aber so war’s nicht. Es war ein Prozess und der hatte damit zu tun, dass ich mit einer Freundin in der Schule war, die sehr, sehr gläubig war. Diese Frau hat mich fasziniert, weil sie, anders als mein Bild von Christen, einfach normal war (lacht). Ich hatte Christen wahrgenommen als Freaks, als Menschen, die anders sind als ich. Sie hat mich sehr beeindruckt. Zum einen, weil sie so natürlich war, zum anderen, weil sie so einen tiefen Halt im Leben hatte. Und ich hatte versucht, mit ihr zu diskutieren, und sie hat eigentlich gar nie viele Argumente für den christlichen Glauben gebracht. Sie hat einfach eine Ruhe, einen Frieden ausgestrahlt. Nach dem Abitur habe für mich beschlossen: „Komm, jetzt probierst Du es einfach mal mit Gott.“

FW: Wie hat sich bestätigt, dass das eine gute Entscheidung war?

Ich hab’ danach eine Freude empfunden, die mir irgendwie Halt gibt im Leben. Und dieser Halt ist bis heute geblieben und auch der Grund, warum ich dann Pfarrer geworden bin. Ich habe davor sehr exzessiv Party gemacht, und was man halt so macht, und wahrscheinlich auch zu viel davon – nichts gegen Party! Ich habe auch heute nichts gegen Party. Es waren einfach zu viele Drogen, zu viel von allem möglichen, was man halt so macht in dem Alter. Und danach hab’ ich einfach von einem Tag auf den andern aufgehört damit. Das hat bei meinem Freundeskreis, sag ich mal, für Diskussionen gesorgt. Auch meine Eltern fanden das am Anfang nicht nur cool. Sie haben gedacht, ich bin in einer Sekte, weil mein Leben sich einfach so geändert hat und ich jeden Sonntag freiwillig in die Kirche gerannt bin, wenn man mich früher dafür hat „schlagen müssen“.

FW: Sie zeigen in Ihren Posts Autos, Motorboote, Fussballtrikots, Schuhe, DJ-Sets, Ferien an der spanischen Mittelmeerküste. Mit Ihrem Lebensstil haben Sie sich nicht immer willkommen gefühlt in Ihrer Kirche.

Ja, diese Ablehnung wurde aber nicht ausgesprochen, niemand sagte: „Du bist jetzt nicht willkommen“. Aber die Ablehnung hatte ich auch nicht in meiner ersten Gemeinde, wo ich als junger Mensch nach dem Abitur war, sondern eher an der Universität. Ich habe da Theologie studiert, und das war eine Welt, die ich so nicht kannte. Ich war kein Pfarrerskind oder christlich gross geworden. Wir hatten im Advent immer an der Universität gesungen und ich kannte schon „macht hoch die Tür“ und so die Klassiker, aber die Kollegen haben da natürlich richtig losgelegt und in der Aula der Theologischen Fakultät auswendig Weihnachtslieder gesungen. Und ich kannte kaum welche. Und da habe ich gemerkt, okay, du bist hier echt ein Außenseiter. Ich sehe das heute im Nachhinein auch als Segen. Ich hab’ natürlich zunächst versucht mich anzupassen, mit dem Intellekt mitzuhalten, auch mit der Sprache. Und im Vikariat war das für mich ein Riesendruck. Wenn ich heute meine Predigten lese, so haben die sich schrecklich angehört, weil ich immer versucht hab’, meinen theologischen Vorbildern oder meiner Vorstellung, wie ein Pfarrer zu sein hat, gerecht zu werden.

David Neuhold: Krampfhaft stilisiert, sozusagen…

Genau. Meine Frau hat damals gesagt, wenn Du auf der Kanzel stehst, erkenne ich dich nicht wieder. Das hat gesessen, und ich habe für mich beschlossen: Ab jetzt bin ich auf der Kanzel der, der ich auch sonst bin und versuche einfach so zu schwätzen, wie wir gerade schwätzen, auch im Dialekt. Das war bei uns nicht ganz gang und gäbe, weil der Pfarrer immer noch mit einem sehr intellektuellen Menschen, der auch sprachlich gewandt ist, verbunden wird und dem auch eine gewisse Belesenheit nachgesagt wird. Und all das trifft auf mich leider – oder Gott sei Dank – nicht zu, weil ich dadurch auch neue Menschen erreichen kann, die ähnlich geprägt sind.

Post von Nicolai Opifanti auf @pfarrerausplastik, 14. Mai 2022.

FW: Der Name „Pfarrer aus Plastik“: Ist das eine Anspielung auf eine gewisse Falschheit, die Sie erfahren haben? Plastik ist ein ja der Inbegriff von „fakeness“, von Billigem und Niveaulosem.

Der Name war erstmal nur ein Spass. Er ist aus einem lustigen Abend heraus entstanden. Damals hatte ich noch 300-400 Follower, ich bin selbst anderen Accounts gefolgt und habe meine Pizza hochgeladen, die ich abends gegessen habe und da haben wir das Lied „Palmen aus Plastik“ (Bonez MC und RAF Camora, 2016, Anm. d. Red.) gehört. Das war in den Charts ganz oben, ich hab’ mir das angehört und einer hat geschrieben, „Hey du bist der Pfarrer aus Plastik!“ Und dann hab’ ich halt ganz schnell in dieser Bierlaune meinen Account in diesen Namen geändert und nicht viel darüber nachgedacht. Es hat ja auch keine Sau interessiert. Später dann wurde mir das schon zum Verhängnis: Wie kann man sich als Pfarrer für Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung und bla bla bla einsetzen und sich so nennen? Ich war schon dran, etwas anderes zu suchen und irgendwann hab’ ich gedacht: „Nee, ich lass es bewusst“. Ja, genau für das, wofür dieses Lied steht – und ich liebe dieses Lied –, genau für dieses Milieu möchte ich Pfarrer sein. Und wenn es manchen Leuten aufstösst, dann ist’s halt so.

DN: Das heisst, Sie bekommen auch negative Rückmeldungen?

Mittlerweile nicht mehr, weil die Leute, die mir folgen, wissen ja, wie’s ist. Aber ich kriege immer wieder Fragen – so wie auch von euch. Aber das ist ein guter Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Wenn ich ihnen dann die Geschichte erkläre und sie merken, „der hat ja gar nicht so viel darüber nachgedacht“, dann sind die auch ganz schnell einig und finden es eher witzig.

FW: Sie sprechen immer wieder ausdrücklich das Thema Authentizität an. Es entsteht fast der Eindruck, dass die pfarramtliche Tradition für Sie im Widerspruch steht zum Mensch-Sein. Ohne Erwartungen gäbe es keinen Anlass zur Rebellion.

Ja definitiv, wir haben schon vorhin kurz über die Erwartungen gesprochen. Es ist ja nicht so, dass da irgendwann jemand vom Kirchenvorstand dasteht und sagt: „Wenn sie noch einmal in Turnschuhen predigen, dann sind sie ihren Job los“. Wir haben zwar einen Code bekommen, in dem steht, was man tun soll – und da steht tatsächlich drin, dass man schwarze Schuhe unter dem Talar tragen sollte –, aber faktisch würde mich jetzt niemand deswegen anschwärzen. Es sind eher die eigenen Vorstellungen, die einen unter Druck setzen. Das ist auch natürlich, denn wir haben es mit einer Institution zu tun, die dieses Amt seit 600 Jahren kennt, die katholische Kirche noch länger. Damit sind natürlich auch 600 Jahre Tradition verbunden.

Man schaut auch positiv zu vielen grossen Menschen auf, die die Kirche geprägt haben, und fragt sich: Ist man dieses Amtes würdig als kleiner normaler Mensch? Ein Stück weit arbeitet man sich daran ab. Ich habe beide Wege versucht: zuerst den Weg, mich in diese Tradition zu stellen, wie sie früher vielleicht war. Und dann hab’ ich den Weg gewagt, das Amt mit mir als Person kompatibel zu machen – der Weg war für mich der erfolgreichere und ich glaube, das ist er für ganz viele. Wie man sich in der Pubertät irgendwann von den Eltern ablöst, muss man sich irgendwann auch von solchen Amtsvorstellungen ablösen. Da bin ich kein Phänomen oder keine Einzelheit. Bei mir kam das eben durch Instagram und Social Media, aber ich glaube, unsere Generation ist da eigentlich sehr einheitlich. Das sind natürlich Umbrüche und diese Umbrüche reformieren Kirche auch.

DN: Das ist ja eine gute Tradition, eine, die sich weiterentwickelt…

FW: Sie erwähnen den Ausdruck „Reformation“. Es scheint mir tatsächlich etwas von Reformation zu haben, was Sie vorantreiben, im Sinne eines Versuchs, zur Authentizität des Christentums zurückzukehren. Solche Bewegungen zurück zur Authentizität hat es verschiedene gegeben, religiöse wie auch politische3. Auch Sie sagen, „Hey schau, das Pfarramt zwingt mich in eine Form, die ich nicht bin, ich drücke mich selbst aus und daraus lebe ich ein authentischeres Christentum“. Sehen Sie sich als Fackelträger eines reformatorischen Gedankens im Internet?

Nee, dafür sind wir auch zu viele. Ich würde sagen die digitale Kirche ist mittlerweile ein Phänomen, das viele tausende Menschen erreicht und auch noch brutal Potential hat. Jeden Tag kommen neue Kolleginnen und Kollegen dazu, die ihre Arbeit zum Teil auf Social Media verlagern. Im Rahmen dieser Bewegung würde ich schon sagen, dass wir reformatorische Impulse in die Kirche tragen. Ich glaube auch, dass das unbewusst geschieht. Wir wollen die Kirche irgendwie reformieren, in erster Linie, weil jüngere Menschen in den Sozialen Medien aktiv sind, also auch jüngere Pfarrerinnen und Pfarrer, die sagen, „Ich teile mein Leben teilweise auch“. Wir haben auch viele Kolleginnen und Kollegen, die ihre Homosexualität zum Thema machen und Pfarrerinnen und Pfarrer, die als Ehepaar zusammenleben. Das reformiert natürlich die Kirche, weil da ein Bild nach aussen getragen wird, das die Menschen so nicht kennen.

Und was sich auch ändert, ist die stärkere Unmittelbarkeit; wir verlieren so ein bisschen diese Amtswürde. Früher hat man vielleicht eher Respekt gehabt vor dem Amt und sich nicht getraut, jemanden direkt anzusprechen „alles ist so heilig da“. Dadurch, dass wir uns bewusst auch als Menschen im Alltag zeigen, merken die Leute, „Hey, die kann ich ja ansprechen“. Dadurch passiert natürlich auch eine theologische oder ekklesiologische Verwandlung der Kirche. Und an dieser Stelle, würde ich sagen, passiert tatsächlich auch ein Stück weit Reformation und ein „Zurück zu den Ursprüngen“. Jesus war ja hochgradig ansprechbar und hat Gott im wahrsten Sinne des Worts berührbar gemacht. Das ist der Ansatz, der Kirche eigentlich auszeichnen sollte.

DN: Also, Sakralität wird ein bisschen ausgewaschen.

Ich würde es anders sagen: Sakralität wird in den Alltag gebracht, da, wo sie auch hingehört. Dadurch, dass ich nicht aufhöre, Pfarrer zu sein, wenn ich aus der Kirche rausgehe, sondern mein Pfarrersein im Alltag lebe und mitteile, geht mein Glaube mit mir. Mit meinem Glauben geht auch Gott mit mir in den Alltag, in alle Hochs und Tiefs. Das zu zeigen und zu zeigen, wie Gott sich im Alltag den Menschen beweist, könnte den Menschen auch neue Impulse geben.

FW: Man könnte aber auch entgegnen: Ursprünglich war die Reformation eine Rückkehr zum wahren Christentum. Die Authentizität, die Sie durch das Teilen Ihres Alltags auf Instagram leben, ist vor allem eine Rückkehr zu sich selbst. Das Pfarramt wird zu etwas, in dem man sich selbst verwirklichen und das man sogar an sich selbst anpassen darf, statt es demütig zu bekleiden. Ist insofern der Instagram-Pfarrer ein Symbolbild oder Vorbote für einen postmodernen Klerus, der radikal mit sich selbst beschäftigt ist?

Ja absolut, und man kann das natürlich auch durchaus kritisieren. Ich hab’ ja früher versucht, meine Person zurückzustellen und eher diesem klassischen Bild gerecht zu werden. Und es gibt durchaus auch Kollegen, die sagen, meine Person sollte hinter der Botschaft und dem Amt zurücktreten. Das ist ein legitimer theologischer Ansatz, den ich nicht verteufeln würde. Mein Ansatz ist halt ein anderer, ich sage: „Gott und ich als Mensch sind miteinander verwoben. Das heisst, meine Geschichte, seitdem ich mich als Christ bekenne, ist verwoben auch mit Gottes Geschichte, die Gott mit mir persönlich als Nicolai schreibt.“ Ich gehe davon aus, dass sich mein Bibellesen in meinem Alltag auswirkt, deshalb teile ich ihn auch mit den Menschen. Das heisst, in dieser Hinsicht gibt es kein Wahr und kein Falsch. Ich würde schon sagen, dass mein Ansatz postmoderner ist, weil er ein Stück weit zu dem passt, wie auch andere, sag ich mal, säkulare Influencer sich zeigen. Da geht es viel oder fast ausschliesslich um die Person und das eigene Leben. Und natürlich muss man da aufpassen. Wir dürfen uns nicht alle nur um uns selbst drehen. Da würden wir dann irgendwann auf der anderen Seite vom Pferd runterfallen, weil uns als Kirche immer wieder die Botschaft dahin weist, dass der Nächste auch noch da ist (lacht). Also da braucht es schon mal ein Korrektiv, vielleicht auch von Menschen, die ihr Amt ganz anders leben.

FW: Ihre Offenheit zur letztlich „korrekten Wahrheit“ ist schon ein Wahrzeichen des Postmodernen – ebenso Ihr spielerischer Zugang zur Tradition. Als Beispiel: Der 15. September, sagen Sie in einem Post, ist der Tag des Double Cheese Burgers. Heute ist der 21. September. Was für ein Tag ist das, und kann ich ihn auch auf dem McDonalds Menu finden?

Gerade vorhin im Fitnessstudio habe ich gesehen: Heute ist tatsächlich der Weltfriedenstag. Bei mir im Gym läuft immer richtiger Schwachsinn, „heute ist Welt-“ keine Ahnung, „Bananentag“. Aber heute stand da Weltfriedenstag. Und ich hab’ mir tatsächlich überlegt, ob ich dazu einen Post machen soll, aber dann war ich zu faul. Vielleicht kommt es noch.

FW: Während der Reformation wurden die Kirchen ausgeräumt, das machen Sie selbstverständlich nicht. Ihre augenzwinkernde, selbstironische Bricolage von Kirchentradition und Kapitalismussymbolik hingegen erinnert etwas an Andy Warhol. Sie sagen, der Name war Zufall, aber auch der „Pfarrer aus Plastik“ hat etwas popkulturartiges. Ist da auch eine subtile Kritik dabei, in diesem Fall an den vielen Feiertagen, die kaum mehr beachtet werden – oder lese ich da zu viel hinein?

Ja, da lesen Sie wahrscheinlich zu viel hinein.

FW: Schade!

Also, wenn man das analysiert, kann man sich schon fragen, warum ich das mache; aber eigentlich mache ich vieles tatsächlich aus dem Bauch raus. Ich bin auch ein impulsiver Mensch und denk’ manchmal wahrscheinlich eher zu wenig nach. Aber klar, das ist ein stückweit auch Programm bei mir, weil Kirche in der Öffentlichkeit oftmals überreflektiert rüberkommt. Schaut euch zum Beispiel mal, es lohnt sich, Fernsehgottesdienste an. Du hast davor ein super lockeres Programm im Fernsehen und merkst dann sofort: Jetzt wird’s kirchlich. Und das, obwohl die Leute eigentlich Schulungen haben, bevor sie im Fernsehen Gottesdienste machen dürfen. Ich möchte die Leute nicht anklagen, aber trotzdem verfallen sie immer in den Slang, wo man sofort erkennt: „Kirche“. Die Sprache verändert sich auf einen Schlag. Und auch bei mir ist es so, dass ich auf der Kanzel tatsächlich immer noch anders rede als im Alltag. Man kann auch sagen, das sei in Ordnung so, aber eigentlich möchte ich diese Trennung zwischen Kirche und normalem Leben nicht haben. Und deswegen zeige ich mich auch, wenn ich einen Cheeseburger esse. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Veggieburger oder Veganer total bescheuert finde, aber ich möchte nichts ausblenden. Deswegen zeige ich auch mein Auto, denn ich liebe schnelle Autos. Ich weiss genau, dass 80% meiner Kirchenmenschen überhaupt nichts für Autos übrighaben. Aber ich zeige es, weil ich mich nicht anders darstellen möchte, als ich tatsächlich bin.

Post von Nicolai Opifanti auf @pfarrerausplastik, März 2022.

FW: Gleichzeitig verwenden Sie aber doch kirchliche Ausdrücke. Sie haben in einer Serie von Posts kirchliche Begriffe erklärt, wie etwa „Sünde“. Eine Serie heisst „Meine Posts eure Themen“, auch darin geht es um die Bedürfnisse der Leute und nicht um die Performance von Kirchlichkeit. Es geht ganz basisdemokratisch um das, was die Leute am häufigsten gelikt haben. Da ist dann auch sofort das Thema Sexualität aufgekommen, von dem man sehr selten von der Kanzel hört. Sie haben dazu das Hohelied der Liebe und das hebräische Wort ‚jada‘ erklärt und viel Zustimmung geerntet. Bietet Instagram die Enthemmung des Pfarramts?

Ja, definitiv. Und auch neue Möglichkeiten, denn Sie können auch neue Milieus damit erreichen. Man sieht das auch wunderbar in den Insights, die man sich auf Instagram anzeigen lassen kann. Das war überhaupt der Grund, warum ich mit meinem Beruf auf Instagram gegangen bin, weil ich gemerkt habe: In meiner analogen Kirche ist ein anderes Milieu. Und ich freu’ mich über jeden und jede, die da kommt, aber die sind natürlich eher schon 60 plus. Und auf Instagram ist es genau andersrum. Da habe ich zu 80, 90 Prozent Menschen, die unter 45 sind. Da kommen natürlich auch andere Themen auf. Ich habe auch ganz unterschiedliche Menschen, die mir folgen; manche sind super fromm gross geworden und für die ist es gut, wenn einer sagt: „Es ist nicht so eindeutig, wie es in super frommen Kreisen gelehrt wurde“. Die denken vielleicht, dass in Gottes Buch nie von Sex die Rede ist. Aber in der Bibel ist von jeder Menge Sex die Rede, auch positiv. Von daher ist das ein stückweit auch Aufklärungsarbeit.

FW: Führen Sie auf Instagram auch seelsorgliche Gespräche im Sinne der Spiritual Care, wie man es von der Spitalseelsorge her kennt, zum Beispiel über Sexualität?

Ja, das ist sogar die Hauptarbeit. Das eine sind die Posts, die man sieht, und nach und nach entsteht daraus tatsächlich so etwas wie eine Beziehung zu den Menschen. Ich habe viele Menschen, die mir seit 3-4 Jahren folgen, und die ich oft noch gar nie analog gesehen habe. Aber ich kenne sie teilweise besser als meine analogen Gemeindemitglieder, weil ich öfter Kontakt mit ihnen habe, manchmal zwei- bis dreimal in der Woche. Da ist viel Smalltalk dabei in den Chats, aber immer wieder wird’s richtig ernst. Ich habe dann auch eine Art Beratungsgespräch, manchmal telefonisch, je nachdem, wie intensiv der Kontakt und die Vertrauensbasis ist. Zusammen mit meiner Kollegin, mit der ich das mach’, ist es ungefähr 50-50. Der eine Teil ist Content-Erstellung und der andere ist das tägliche Schreiben mit den Menschen. Nicht immer gleich fette Seelsorge, oft auch einfach über das Ergebnis irgendwelcher Fussballspiele oder mein Essen oder Kochrezepte. Da geht’s ans Eingemachte und da habe ich dann auch das Gefühl: man kann miteinander das Leben teilen und gestalten.

FW & DN: Nicolai, herzlichen Dank für das Gespräch!


Blogbeitrag von Fabian Winiger & David Neuhold UFSP Projekt 11 Digitalisierung seelsorglicher Spiritual Care


1Faelens, Lien, Kristof Hoorelbeke, Ruben Cambier, Jill van Put, Eowyn Van de Putte, Rudi De Raedt, und Ernst H. W. Koster. 2021. „The Relationship between Instagram Use and Indicators of Mental Health: A Systematic Review“. Computers in Human Behavior Reports 4 (August): 100121. https://doi.org/10.1016/j.chbr.2021.100121.

2Lasch, Christopher. 1991. The Culture of Narcissism: American Life in an Age of Diminishing Expectations. Revised Edition. New York: W. W. Norton & Company.

3Seligman, Adam B., Robert P. Weller, Michael Puett, und Bennett Simon. 2008. Ritual and Its Consequences – An Essay on the Limits of Sincereity. Oxford: Oxford University Press.

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