Was haben Palliative Care und eine Bergtour gemeinsam?

Was haben Palliative Care und eine Bergtour gemeinsam?

Zusammenfassung

Der Sommeranfang lockt schon viele nach draussen und manch einer nutzt das schöne Wetter für eine Bergtour. Dabei ist insbesondere eine gute Tourenplanung essentiell. Fragen wie «Was machen wir, wenn plötzlich das Wetter kippt» oder «wir doch länger brauchen als geplant», sollten hier u.a. betrachtet werden. Gerade hier ist eine gute Vorbereitung mit allen Eventualitäten und den verschiedensten Optionen sowie zusätzliches Equipment sehr hilfreich. Nicht nur für eine Bergtour ist eine vorausschauende Planung wichtig, sondern auch dann, wenn es um unsere Gesundheit geht. Doch was braucht es für eine vorausschauende Gesundheitsplanung?

Für viele Menschen ist es gerade jetzt schwierig, eine rechtzeitige und koordinierte Gesundheitsversorgung zu erhalten: Während gesunde Menschen ihre Vorsorgetermine verschieben können, ist das für Menschen mit einer chronischen oder gar unheilbaren Krankheit keine Option. Die COVID-19 Pandemie gefährdet nicht nur deren kontinuierliche Versorgung, sondern stellt zudem ein hohes Risiko dar, schwer krank zu werden. Fragen, die dann auftreten sind beispielsweise: «Was, wenn ich mich mit dem Coronavirus anstecke?», «Was, wenn sich meine Krankheit verschlechtert?», «Was kann ich tun, wenn ich mitten in der Nacht unter Schmerzen oder Luftnot leide oder mir übel ist?», «Wie kann ich vermeiden, dass ich hospitalisiert werde?», «Kann ich das meinem Partner und meinen Kindern zumuten?» oder «Kann ich vielleicht auch mehr Unterstützung zu Hause bekommen?». Diese Fragen machen deutlich, dass gerade jetzt ein flexibles und zuverlässiges integriertes Versorgungssystem erforderlich ist, um Menschen mit einer chronisch fortschreitenden oder unheilbaren Krankheit entsprechend zu versorgen. Ein solches Versorgungssystem sollte palliative Massnahmen beinhalten. 

Was ist Palliative Care?

Palliative Care ist eine multidisziplinäre medizinische Disziplin, die sich auf die Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität chronisch und unheilbar kranker Patienten konzentriert. Das primäre Behandlungsziel besteht nicht in der Heilung der Krankheit, sondern vielmehr darin, wie Betroffene zusammen mit ihrem Umfeld bestmöglich mit der Situation umgehen können und sich auf allfällige Phasen der Verschlechterung vorbereiten können. «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage hinzuzufügen, sondern den Tagen mehr Leben zu geben». So beschrieb Cicely Mary Strode Saunders– die Gründerin von Palliative Care – bereits 1977 das Hauptanliegen von Palliative Care. Das Versorgungskonzept der Palliative Care macht für alle Patienten mit chronisch fortschreitenden und unheilbaren Erkrankungen Sinn, unabhängig von deren Krankheitsbild und -stadium. Der Bedarf an spezialisierter Palliative Care richtet sich am Grad der Instabilität und Komplexität der Patientensituation aus. Das macht die Übergänge zwischen Palliative Care Grundversorgung und Spezialisierter Palliative Care fliessend. 

Ganzheitliches Symptom-Management

Um die bestmögliche Lebensqualität für das verbleibende Leben eines Patienten zu gewährleisten, verfolgt die Palliative Care einen patientenzentrierten und ganzheitlichen Ansatz, der auf dem biopsychosozial-spirituellen Konzept der Medizin basiert. Im Mittelpunkt der Palliative Care steht die Verbesserung und Erhaltung der Lebensqualität von Betroffenen und deren Angehörigen in all ihren Dimensionen. Damit einher gehen eine bestmögliche Behandlung der körperlichen Symptome, des psychischen Wohlbefindens, der Aufrechterhaltung des sozialen Netzes, finanzielle Sicherheit und spirituellen Bedürfnisse. 

Multidisziplinäres Netzwerk

Um diese Bedürfnisse umfassend abzudecken, bedarf es einer interdisziplinären und interprofessionellen Behandlung und Betreuung. Dabei ist eine multidisziplinäre Zusammenarbeit aus Ärzten und Krankenschwestern, Psychologen, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Seelsorgern und Angehörigen zentral. Dies, um so in Phasen der Verschlechterung auf entsprechend fachliche Ressourcen zurückgreifen und allfällige Anpassungen der Behandlung mit den Experten besprechen zu können. Denn je anspruchsvoller eine «Tour» ist, desto komplexer wird deren Planung und Durchführung. Dabei spielen nicht nur die Wünsche des «Tourenführers» und der aktuelle «Wetterbericht» eine Rolle, sondern auch die «körperliche und psychische Verfassung» jedes einzelnen Mitglieds. 

Einbezug und Unterstützung von Angehörigen

Gerade bei chronisch fortschreitenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten ist der Einbezug des Umfelds zentral, denn dies beeinflusst das Leben aller Beteiligten. «Es braucht eine sehr gute Integration des familiären Umfelds, was da machbar ist und was auch eben nicht» so Steffen Eychmüller, Chefarzt Palliativzentrum des Universitätsspitals Bern. Viele Entscheidungen, wie beispielsweise so lange wie möglich zu Hause wohnen, hängen von den Wünschen des Patienten und den Kapazitäten der Angehörigen ab. Die verschiedenen Möglichkeiten und der gemeinsame Weg müssen mit allen beteiligten Personen – den Patienten selbst, den Angehörigen und den Gesundheitsfachpersonen – besprochen und diskutiert werden. «Denn gelitten wird auf ganz verschiedenen Ebenen – nicht nur bei den Patienten. Wir haben sehr viele Angehörige, die in der Doppelfunktion in die Knie gehen» berichtet Steffen Eychmüller. 

Wie bei einer Bergtour gibt es Folgendes zu beachten, wenn man in einer «Gruppe» unterwegs ist: 

  • Ist die Planung für alle Beteiligten in Ordnung?
  • Ist jedem bewusst, was uns auf der Tour erwarten wird?
  • Passen Ziel und Route für alle Beteiligten?
  • Sind alle Teilnehmer den Anforderungen der Tour gewachsen?

Vorausschauende Planung

Potentiell eintreffende Szenarien, Ängste und Bedürfnisse «sollten nicht erst dann geklärt werden, wenn sie bereits vor der Türe stehen, sondern mit ein bisschen Abstand, damit man sich möglichst gut vorbereiten kann.» so Steffen Eychmüller. Von der frühzeitigen Besprechung des gemeinsamen Wegs profitierten auch eine 75-jährige Patientin und ihr Mann. Die Patientin litt seit vielen Jahren an Krebs. Eines Tages musste sie wegen akuter Verschlechterung durch eine Lungenentzündung ins Spital eingewiesen werden. Hier stellten die Ärzte fest, dass «ihr Allgemeinzustand es nicht mehr erlaubte noch einmal eine Chemotherapie zu machen» so Marco Zoller, Hausarzt der Gemeinschaftspraxis am Meierhof in Zürich. «Obschon sie eigentlich gerne noch mal nach Hause zu ihrem Ehemann gegangen wäre, riet ihr das Spital, in einem Pflegezentrum zunächst zu Kräften zu kommen. Die Patientin verlor jedoch zunehmend an Gewicht und ihr Allgemeinzustand verschlechterte sich innert drei bis vier Wochen nochmals stark» berichtet der Hausarzt weiter. «Ein Familiengespräch mit dem Ehemann und Angehörigen machte deutlich, dass die psychische Belastung und die physischen Herausforderungen für ihn und die Familie eine Betreuung zu Hause verunmöglichten. Der Zustand hatte sich so verschlechtert, dass eine erneute Einweisung ins Spital oder in ein spezialisiertes Pflegeheim diskutiert wurden. Dies wollte die Patientin jedoch nicht mehr», so Marco Zoller. Durch die enge Zusammenarbeit von Hausarzt und der Palliativ-Spitex konnte die Patientin ohne Umgebungswechsel bis zum Schluss zu Hause betreut werden.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass eine frühzeitige Klärung der Behandlungsziele essentiell ist. Dabei entscheidend ist, Patienten zu fragen, was für sie wichtig ist, aber auch, was unter keinen Umständen passieren sollte. Das ist umso wichtiger, da es ja auch sein kann, «dass zwischendurch Komplikationen auftreten, die sehr schwerwiegend sind, da muss man zumindest ein bisschen wissen, was die betroffene Person an medizinischen Massnahmen wünscht und was aber auch nicht. Es geht um die Ziele und Erwartungen» so Steffen Eychmüller. «Die meisten Menschen die wir treffen, sagen, dass sie solch eine Lebensqualität haben möchten, dass sie an einem Leben teilnehmen können und nicht nur als pflegebedürftige Geschöpfe mehr oder weniger apathisch herumliegen. Gerade dies muss mit den Patienten und Angehörigen detailliert besprochen und eine individuelle Notfallplanung erarbeitet werden. Was möchten sie und was möchten sie auf keinen Fall in einer Situation plötzlicher länger andauernder oder bei gleichbleibender Urteilsunfähigkeit?» berichtet der Palliativmediziner weiter.

Fazit

Die aktuelle Pandemie erhöht den Bedarf an palliativer Versorgung. Und dies auf allen Ebenen. Es sind nicht nur Ärzte und Gesundheitsfachpersonen, sondern auch Patienten und Angehörige nun mehr mit palliativen Fragen und den Besonderheiten der COVID-19-Erkrankung beschäftigt. So benötigen mehr Menschen palliative Versorgung und Angehörige mehr Betreuung, da sie ihre Liebsten aufgrund der Isolation nicht mehr besuchen können.

Dies macht deutlich, dass Palliative Care weit über Sterbebegleitung hinaus geht und integraler Bestandteil des ganzen Krankheitsverlaufs chronisch und unheilbar kranker Patienten sein sollte. Denn «Idealerweise kommt eine palliative Versorgung nicht erst ganz am Schluss zum Einsatz, sondern wenn man merkt, dass mit den medizinischen Massnahmen, die Krankheit oder Krankheiten nicht mehr verbessert werden können» so Steffen Eychmüller. Dann ist es wichtig zu wissen, was bei einem plötzlichen Wetterumschwung möglich ist.  

Autoren

Sarah Ziegler

Titelbild: privat