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Wer war Anna Heer?

4. März 2019 | Esther Peter | Keine Kommentare |

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Chirurgin – Unternehmerin – Pionierin der Krankenpflege

Selbst in unserm Jahrhundert wäre Anna Heer eine Ausnahmeerscheinung, noch viel mehr war sie es in ihrer Zeit. Um ihre Vision umzusetzen, forderte sie 1896, also 75 Jahre vor der Einführung des Frauenstimmrechts, ein eigenes Spital. Knappe fünf Jahre später nahm die Schweizerische Pflegerinnenschule in Zürich ihren Betrieb auf. Dieser Erfolg war kein Geschenk des Schicksals, sondern die Frucht hartnäckiger, harter Arbeit.

„Mein Vater hatte eine kleine Fabrik und eine grosse Familie“, erinnerte sich Anna Heer. Isaak Heer stellte zunächst in Olten Schuhe her, 1877 verlegte er seinen Betrieb nach Suhr, wo er Elastikwaren produzierte. Über die Mutter ist wenig überliefert. Sie gebar elf Kinder. Vier starben früh, sieben erreichten das Erwachsenenalter. Nach Abschluss der Mädchenbezirksschule in Aarau zog Anna Heer nach Zürich, besuchte zuerst die Kunstgewerbeschule, dann das Gymnasium. Sie hatte das Glück, bei Kaspar und Bertha Grob eine Unterkunft zu finden. Das Ehepaar wurde zu einer Art Pflegeeltern, die sie ermutigten und später bei ihren Unternehmungen erfolgreich unterstützten. Bei Annas Einzug war Sekundarlehrer Kaspar Grob bereits zum Erziehungssekretär des Kantons Zürich aufgestiegen. Ab 1893 bis zu seinem Tod 1901 war er Zürcher Stadtrat.

Nach der Maturität begann Anna Heer 1883 an der Universität Zürich mit dem Medizinstudium. Ihre Mitstudentinnen interessierten sich vor allem für Frauen- und Kinderheilkunde, Anna Heers Lieblingsfach dagegen war die Chirurgie. Nach den Schlussprüfungen verbrachte sie einige Monate zur Weiterbildung in London, wo sie auch mit den modernsten Vorstellungen von Krankenpflege in Kontakt kam. 1889 eröffnete Anna Heer ihre eigene Praxis. Dabei kam ihr zu Hilfe, dass sie in den ersten Monaten Marie Heim-Vögtlin, die erste Schweizer Ärztin, während deren Mutterschaftsurlaub vertreten durfte.

Chefärztin Anna Heer mit Oberin Ida Schneider (Foto: Gosteli-Stiftung, Worblaufen)

Einige ihrer schwer kranken Patientinnen betreute Anna Heer im Spital des Schwesternhauses vom Roten Kreuz (Areal des heutigen Careum). Hier begegnete sie 1892 der sechs Jahre jüngeren Krankenschwester Ida Schneider. Die beiden Frauen freundeten sich an und verfolgten gemeinsam ihre grossen Pläne: Reform der Krankenpflegeausbildung und Organisation der Krankenpflegerinnen.

Nach der Eröffnung der Pflegerinnenschule und Spital 1901 in Zürich-Hottingen bewältigte Anna Heer ein unglaubliches Pensum. Sie leitete das Unternehmen, war Chefärztin, führte ihre Privatpraxis an der Unteren Zäune 17 weiter und unterrichtete abends ab acht Uhr in der Pflegerinnenschule. Ihren Einsatz für Spital und Schule, abgesehen von der Behandlung der Privatpatientinnen, leistete sie unentgeltlich.

In jenen Jahren trug Anna Heer auch immer mehr Verantwortung für ihre Familie. Maria, eine ihrer Schwestern, lebte nun ebenfalls beim Ehepaar Grob. Sie hatte das Lehrerinnenseminar in Aarau besucht, sich nach einem Italienaufenthalt zum Weiterstudium entschlossen und unterrichtete dann während Jahrzehnten Französisch und Italienisch an der Töchterschule. Vater Isaak Heer war, anders als seine Tochter, ein eher glückloser Unternehmer. Als Anna Heer 1889 ihre Praxis eröffnet hatte, siedelte die Familie nach Zürich über. Es ist unklar, ob sie beabsichtigte, künftig auf Kosten der Tochter zu leben. Einige Jahre nach dem Umzug wohnten die Eltern an getrennten Adressen. Anna Heer hatte endgültig die Rolle des Familienvorstandes übernommen.

Anna Heer verfolgte auch ihr Ziel weiter, die Pflegerinnen in einem Verband zur Vertretung ihrer Interessen zusammenzufassen. Aus einem Stellenvermittlungsbüro entwickelte sich allmählich die Sektion Zürich. 1910 verbanden sich die beiden ersten Sektionen Bern und Zürich zum Schweizerischen Krankenpflegebund (heute Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK), den Anna Heer bis 1916 präsidierte.

Aufgrund von Kompetenzproblemen mit einer Ärztin zog sich Ida Schneider im Februar 1914 von ihrer Position als Oberin zurück. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige Monate danach stellte die Verantwortlichen der Pflegerinnenschule vor ungeheure finanzielle und organisatorische Probleme. Kurzfristig kehrte Ida Schneider an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Pflegerinnenschule hatte schon vor Ausbruch der internationalen Katastrophe stets knapp kalkuliert. Da sich nun immer weniger Leute die Privatabteilung leisten konnten, wurden die Finanzlage prekär.

Kurz nach Kriegsende, 9. Dezember 1918, starb Anna Heer an einer Sepsis. Ihr, der Pflichtbewussten, gelang es nicht mehr, ihr Erbe erfolgreich zu übergeben.

Text: Verena E. Müller

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