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Erste Medizinstudentinnen an der Universität Zürich

11. März 2019 | Martina Gosteli | Keine Kommentare |

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Trotz aller Hindernisse gelang es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vereinzelten Frauen, sich Zutritt zu höherer Bildung zu verschaffen. Beinahe zufällig spielte die Universität Zürich dabei eine Pionierrolle. 1864 meldeten sich zwei Interessentinnen aus dem Zarenreich, sie wollten Medizin studieren. Zürich entschied pragmatisch, den Bittstellerinnen eine Chance zu geben, da dies kein Gesetz ausdrücklich verbot. Nach 1848 hatten liberale Professoren aus Deutschland in der Schweiz Zuflucht gefunden. Es herrschte wohlwollende Offenheit, nicht nur bei ausländischen Dozenten. Von den ersten dreissig Medizinstudentinnen promovierten sieben Absolventinnen beim Zürcher Friedrich Horner (1831-1886), Professor für Augenheilkunde.

Die Historikerin Verena E. Müller über Anna Heer als frühe Medizinstudentin


Nur wenige Schweizerinnen

Die Nachricht, Zürich lasse Frauen zu, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Europa, ja sogar in den Vereinigten Staaten. Auf Nadeschda Suslova (1843-1918) folgten weitere Russinnen, aus Grossbritannien kam Frances Morgan (1843-1927). Als erste erwarb Nadeschda Suslova 1867 den Doktortitel. Sie heiratete den Augenarzt Friedrich Erismann (1842-1915) und zog mit ihm nach St. Petersburg. Erismann war zuvor mit einer jungen Aargauerin verlobt gewesen. In ihrem Liebeskummer entschloss sich Marie Vögtlin (1845-1916), ebenfalls Medizin zu studieren. Trotz erheblicher Widerstände in Gesellschaft und Familie gelang es, ihren Vater vom Projekt zu überzeugen. 1868 begannen sie und die Amerikanerin Susan Dimock (1847-1875) das Studium. Für die Schweizerinnen erwies es sich als Glücksfall, dass sich Marie Vögtlin 1874 mit dem Geologen Albert Heim (1849-1937) verheiratete. Marie Heim-Vögtlin blieb ihrem Beruf bis zu ihrem Tod treu und genoss grosses Ansehen in der Bevölkerung. Als erfolgreiche Ärztin mit eigener Praxis – und gleichzeitig Ehefrau und Mutter – wurde sie ein wichtiges Vorbild für nachfolgende Schweizer Medizinstudentinnen.


Vorbehalte der Männer

Es gab unterschiedlichste Gründe, um den Frauen Steine in den Weg zu legen. Waren Studentinnen körperlich nicht zu schwach, um den Anforderungen der Universität zu genügen? Zudem fand man es unschicklich, dass sich Damen in aller Öffentlichkeit mit Sexualorganen befassten. Marie Vögtlin hatte noch nicht abgeschlossen, als der Münchner Anatom Theodor von Bischoff 1872 eine Streitschrift gegen das Frauenstudium publizierte: Das weibliche Gehirn wiege durchschnittlich 134 Gramm weniger als das männliche und ein Studium verletzte die natürliche Berufung der Frau. Die ersten Studentinnen hatten jedoch nicht nur gesellschaftliche Vorurteile zu überwinden. Noch gab es keine Mädchengymnasien und ihre naturwissenschaftliche Vorbildung war in der Regel lückenhaft.


Die Patienten und Patientinnen entscheiden

Es war kein Zufall, dass sich die ersten Studentinnen vor allem für das Medizinstudium bewarben. Ein helfender Beruf passte ins herrschende Frauenbild. Es gab aber auch handfeste wirtschaftliche Gründe für den Entscheid. Das teure Studium war eine Investition, die sich irgendwann auszahlen musste. Anders als bei Jus oder Theologie brauchte es für die Berufstätigkeit weder politische Rechte noch eine kirchliche Zulassung. Die Ärztin eröffnete ihre Praxis und die Kranken entschieden, ob sie sich ihr anvertrauen wollten oder nicht.

Erste Seite des Manuskripts von Anna Heer zum Frauenstudium (Universität Zürich, Archiv für Medizingeschichte)


Anna Heer über das Frauenstudium

Anna Heer nahm ihr Medizinstudium 1883 auf, fünfzehn Jahre nach Marie Heim-Vögtlin. Es war schon die zweite Generation von Medizinstudentinnen, die immer noch um Anerkennung kämpfte. In der Ausstellung zu Anna Heer in der Hauptbibliothek – Medizin Careum ist der Entwurf einer Verteidigungsschrift des Frauenstudiums aus der Feder Anna Heers zu sehen. Darin betont sie die Eignung von Frauen und die wirtschaftliche Bedeutung einer guten Berufsbildung, deutet aber auch die Schwierigkeiten an, die eine studierende Frau zu überwinden hatte. „Vielleicht mit Ausnahme der jüngsten Vertreterinnen [sind] die Frauen als Vorkämpferinnen zu betrachten (…), die viel Kraft und Zeit auf die Überwindung von Vorurteilen und Hindernissen aller Art verwenden mussten und deren physische und intellektuelle Erziehung mit Rücksicht auf die später eingeschlagene Laufbahn vielfach eine ungenügende war.“(1)

Text: Verena E. Müller

1. «Ueber das Frauenstudium», undatiertes Manuskript von Anna Heer, Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich.

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