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Die Reise ihres Lebens

1. April 2019 | Martina Gosteli | Keine Kommentare |

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Anna Heer und Ida Schneider auf Nordlandfahrt

Chefärztin Anna Heer und Oberin Ida Schneider waren enge Freundinnen – vielleicht auch ein Paar – und verbrachten ihre Freizeit gemeinsam. Sie kannten sich seit genau zwei Jahrzehnten, als sie ein grosses Reiseabenteuer wagten. Statt wie gewohnt Ferien in der Umgebung zu machen, etwa auf dem Üetliberg oder in Ägeri, entschieden sie sich für eine Kreuzfahrt.

Auf der  „Viktoria Luise

Verheissungsvoll beschrieb Ida Schneider in den Blättern für Krankenpflege die Pläne. „Unser Weg geht nach dem hohen Norden, nach Schottland, Island, Spitzbergen und Norwegen und zwar immer auf dem Meere, damit wir neben den Schönheiten, die eine solche Nordlandreise bietet, auch aus der nervenstärkenden und anregenden Seeluft recht grossen Nutzen ziehen können.“(1) Am 30. Juli 1912 schifften sich die beiden Freundinnen in Hamburg auf der „Viktoria Luise“ ein, einem eigentlichen Meerespalast, der Raum für fünfhundert Gäste bot.

Werbebroschüre HAPAG Nordlandfahrten, 1912

Keine Seekrankheit

Die Seefahrerinnen hatten Glück. Anders als in Zürich regnete es nur an zwei Tagen und selbst ein heftiger Sturm blieb ihnen erspart. Dabei hatte die Werbung beruhigend versprochen, „vor allen Dingen wird auf dem neuen Vergnügungsdampfer die Seekrankheit ein seltener Gast sein, denn das Schiff ist mit den von dem deutschen Werftdirektor Frahm erfundenen Schlingertanks ausgerüstet. (…) Diese Einrichtung wird von Reisenden, die bisher aus Furcht vor der Seekrankheit eine Seefahrt scheuten, mit Freuden begrüsst werden.“(2)

Ida Schneiders Rückblick lässt vermuten, dass die Frauen auch in der Schweiz gelegentlich Bergtouren unternahmen. „Unsere Wanderungen auf Spitzbergen erinnerten einigermassen an die Besteigung des Säntisgipfels, nur mit dem Unterschied, dass wir hier pfadlos über Felsblöcke kletterten und Geröllhalden oder gelegentlich auch über Schnee herunterrutschten und dass man nicht über Weiden hinan stieg, sondern direkt vom Meeresspiegel aus steil emporklomm.“(3)

Eine enge Freundschaft verband Anna Heer (1863-1918) und Ida Schneider (1869-1968) (Gosteli-Stiftung, Worblaufen)

Postkarte aus dem hohen Norden

Wie es sich damals gehörte, verschickten die Reisenden Ansichtskarten. Ein Gruss aus Tromsö ging an die Schwesternschülerinnen und sorgte in Zürich für Unruhe. „Unsere beiden obersten Vorgesetzten hatten sich auf eine Nordlandreise begeben, wie sie zu jener Zeit in Mode kamen. Diese Ferienkarte bewegte unsere Gemüter; sie zeigte die Ansicht eines Meerbadbetriebes, wo wir auch unsere Vorgesetzten im Badekleid entdeckten.“(4)

Über Badevergnügen schwieg sich Ida Schneiders Schilderung aus, dagegen beschrieb sie ausführlich die Mitternachtssonne und „nomadisierende Lappen“, die ihr Sommerlager in der Gegend von Tromsö aufgeschlagen hatten.

Reiseroute (Werbebroschüre HAPAG Nordlandfahrten, 1912)

Komfort auf See

Es ist nicht überliefert, wie sich die beiden Freundinnen in dieser Schiffsgesellschaft fühlten. „Ein grosser, prächtig ausgestatteter Speisesaal, der 490 Sitzplätze enthält, bietet allen Reisenden Gelegenheit, ihre Mahlzeiten gemeinsam und gleichzeitig einzunehmen. Er hat in der Mitte lange und an den Seiten kleine, runde Tische, so dass grössere und kleinere Gesellschaften miteinander speisen können, ganz wie es der gegenseitige Zusammenschluss auf längeren Vergnügungsfahrten erfahrungsgemäss mit sich bringt.“(5)

Die mitreisenden Frauen waren Gattinnen, Witwen oder Töchter, Anna Heer und Ida Schneider als Berufstätige gewiss die absolute Ausnahme.

Halle auf dem Dampfer «Viktoria Luise» (Werbebroschüre HAPAG Nordlandfahrten, 1912)

Eine wohlverdiente Reise

Zurück am Arbeitsplatz holte die berufliche Wirklichkeit die Reisenden gleich wieder ein. „Aber wenn auch einige Bilder recht lebhaft und deutlich in der Erinnerung haften, so möchte ich doch jetzt schon, nach kaum achtwöchiger Arbeit, manchmal fast meinen, das ganze Erlebnis sei nur ein Traum gewesen, wenn nicht doch etwas so Grosses und Schönes davon zurückgeblieben wäre, etwas, das nicht das Erzeugnis eines Traumes sein kann!“(6)

Der Bericht über diese Ferienreise ist in einer besonderen Hinsicht aufschlussreich: Er lässt den beruflichen Erfolg Anna Heers ahnen. Die Preise für eine Doppelkabine reichten von 550-6000 Deutsche Mark, dazu kamen 125 Mark für die Landausflüge. Im Jahr 1912 veröffentlichte die Stadt Zürich eine Liste der Steuerpflichtigen. Anna Heers Schwester Lina, die Weissnäherin, versteuerte ein Jahreseinkommen von 800 Franken, die Ärztin dagegen eines von 10’000 Franken. Da lag ausnahmsweise auch mal eine exklusive Ferienreise im Budget.

Text: Verena E. Müller

Zitate:

  1. Blätter für die Krankenpflege 5 (1912), Nr. 6, S. 113
  2. Werbebroschüre HAPAG Nordlandfahrten, 1912, S. 9
  3. Blätter für die Krankenpflege 5 (1912), Nr. 11, S. 183 ff.
  4. Anna von Segesser, Dr. med. Anna Heer 1863-1918, Zürich, 1948, S. 45
  5. Werbebroschüre HAPAG Nordlandfahrten, 1912, S. 10
  6. Blätter für die Krankenpflege 5 (1912), Nr. 11, S. 184

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