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Das Erbe der Pionierinnen: Anna Heer und Marie Heim-Vögtlin

15. April 2019 | Martina Gosteli | Keine Kommentare |

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Gesellschaftlicher Wandel wird mühevoll, oft blutig, erkämpft. Ist das Errungene zur Selbstverständlichkeit geworden, gehen Wegbereiter und Pionierinnen schnell vergessen. Wer von uns gedenkt beim Wort „Menschenrechte“ dankbar der französischen Revolution und ihrer Opfer? In der Frauengeschichte ist es nicht anders. Während über hundert Jahren setzten sich zahlreiche Persönlichkeiten wagemutig für Rechte oder gar Gleichberechtigung ein. Sie erstritten den Zugang zur Bildung, zu allen Berufen, schliesslich zur politischen Emanzipation, ihre Namen sind aus dem allgemeinem Gedächtnis verschwunden.

Die Historikerin Verena E. Müller über das Vermächtnis von Anna Heer

In der Schweizer Frauengeschichte kommt den beiden Ärztinnen Marie Heim-Vögtlin und Anna Heer ein besonderer Ehrenplatz zu. Als sich Marie Vögtlin 1868 als erste Schweizerin an der Universität einschrieb, riskierten sie und ihre Familie gesellschaftliche Ächtung. Zudem zweifelte die Allgemeinheit daran, ob Frauen tatsächlich ebenso intelligent wären wie Männer und Anspruch auf höhere Bildung erheben durften. Für Studentinnen gab es keine vorbereitenden Schulen, was ihren Start und das Widerlegen von Vorurteilen erschwerte, da sie mit erheblichen Wissenslücken an die Universität kamen.

Marie Heim-Vögtlin Weg beim Triemlispital

Marie Heim-Vögtlin

Die erste Schweizer Ärztin verheiratete sich, hatte Kinder und blieb berufstätig. Ein Glücksfall als Vorbild für spätere Ärztinnen, aber auch ein anspruchsvoller Balanceakt. In den ersten Jahrzehnten nach ihrem Tod war die Erinnerung an Marie Heim-Vögtlins Leistung wach. An der Saffa (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit) 1958 in Zürich befand sich ihr Bild in der Ehrengalerie. Aber erst 1995 benannte die Stadt Zürich zu ihrer Ehre eine Strasse. Ihr Bürgerort Brugg AG war etwas schneller, 1992. Zum hundertsten Todestag 2016 schliesslich widmete ihr die Schweizer Post eine Gedenkmarke.

Anna Heer Strasse in der Nähe der Uni Irchel

Anna Heer

Die Gründerin der Schweizerischen Pflegerinnenschule, Anna Heer, war eine knappe Generation jünger und ging einen Schritt weiter. Sie wählte die Fachrichtung Chirurgie, eine medizinische Spezialität, die bis weit ins 20. Jahrhundert als typische Männerdomäne galt. Mit der Gründung eines eigenen Spitals wagte sie sich noch weiter vor in eine Welt, die erst recht den Herren der Schöpfung vorbehalten schien.

Als Kind in Schinznach hörte eine spätere Absolventin der Pflegerinnenschule vom Spital von Frauen für Frauen: „‚Welch ein Wunder! so sagten unsere Mütter,welch ein Ding der Verstiegenheit, der Unmöglichkeit! so tönte es damals von unseren Vätern.“ (1) Anna Heers Einsatz für eine moderne Krankenpflege war in der Gesellschaft etwas angesehener als der Kampf um Frauenbildung. Zürich eröffnete die Anna Heer-Strasse bereits 1935. Im Rahmen des Jubiläums des Schweizerischen Roten Kreuzes erschien ihr Porträt auf einer Pro Patria-Marke 1963.

Sondermarke Pro Patria 1963 anlässlich der Hundertjahrfeier des Roten Kreuzes
Sondermarke 2016 anlässlich des 100. Todestages von Marie Heim-Vögtlin

Vorbildfunktion

Sowohl Marie Heim-Vögtlin wie Anna Heer waren sich stets ihrer Vorbildfunktion bewusst. Manchmal trugen sie schwer daran.  Es ist wohl kein Zufall, dass beide regelmässig unter heftigen Migräneattacken litten. Marie und Anna waren bereit, auf Bequemlichkeiten zu verzichten und ihren Idealen zu folgen. Diese Wegbereiterinnen führen vor Augen, dass ein Pionierdasein zwar kein leichtes, doch ein interessantes, erfülltes Leben bietet. 

Es ist ein Glück, dass sie nicht darauf warteten, bis andere für sie einstanden. 1971 bekamen die Schweizerinnen die politischen Rechte. Marie Heim-Vögtlin war seit fünfundfünfzig, Anna Heer seit dreiundfünfzig Jahren tot. Selbst die langjährige Oberin der Pflegerinnenschule Ida Schneider, die 99jährig verstarb, verpasste das Stimmrecht um drei Jahre.

Text: Verena E. Müller

(1) Schweizerische Pflegerinnenschule, Nachrichten aus der Schule und ihrem Schwesternkreis, März 1939.

Dies ist der letzte Blogbeitrag der Historikerin Verena E. Müller in unserer Serie zu unserer Ausstellung «Anna Heer, 1863-1918». Wir danken Verena E. Müller für die anregende Zusammenarbeit. Ihre neue Biografie von Anna Heer wird Mitte Mai 2019 erscheinen. Die Ausstellung in der Hauptbibliothek – Medizin Careum wird noch bis am 31. August 2019 zu sehen sein.

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