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Die Idee der Schweiz als Gesundheitsparadies

14. Oktober 2019 | Esther Peter | Keine Kommentare |

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Der Kulturanthropologe und Medizinhistoriker Prof Dr. Eberhard Wolff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Populären Kulturen an der Universität Zürich. Er kuratierte im Jahr 2010 die Ausstellung «Zauberberge: die Schweiz als Kraftraum und Sanatorium» im Landesmuseum in Zürich.

Mit Prof. Dr. Eberhard Wolff sprach Ursula Reis, Fachreferentin für Medizingeschichte der Hauptbibliothek – Medizin Careum.

Prof. Dr. Eberhard Wolff

Eure Ausstellung im Landesmuseum stellte das Image der Schweiz als Gesundheitsparadies dar. Gab es in der Schweiz tatsächlich eine besondere Situation, abweichend vom Ausland? Und warum galt gerade ein Aufenthalt in den Schweizer Bergen als besonders gesund?

In anderen Ländern gab es auch Kurorte, zum Beispiel in den österreichischen Alpen oder auch die Klimastationen am Mittelmeer. Die Konstellation in der Schweiz war aber aus mehreren Gründen besonders intensiv. Dazu gehört sicher die Naturlandschaft mit den «gesunden» Bergen, sowie die Vorstellung von hier besonders gesundem Licht, Wasser und gesunder Luft. Mit der Traditionsorientierung galt die Schweiz dazu als unverdorben und natürlich. Kristallisationspunkte für dieses Image waren und sind Produkte wie Schweizer Alpenmilch oder Schweizer Kräutertee, aber auch Medienprodukte wie «Heidi». Hinzu kam der Tourismus, gerade auch der Wintersport, der das Image nach aussen getragen hat. In ihrer Kombination führen sie, man könnte sagen, zu einer hochgradigen Verdichtungsgeografie der «Gesundorte» in der Schweiz.

Relevant für den Erfolg der Schweizer Kurorte war ausserdem, dass das Land gut erschlossen war, und ein sauberes und ordentliches Image hatte. Man konnte in der Natur sein und musste trotzdem die Zivilisation nicht hinter sich lassen. Die Bircher-Benner Klinik am Zürichberg ist ein gutes Beispiel. Man stieg in London, Paris oder Berlin in den Nachtzug, fuhr am nächsten Tag mit dem Tram bis Fluntern. Nur wenige Schritte weiter und man war in einer anderen Welt. Die Stadt war immer noch nah, aber man war mitten in einem Natur-Raum mit dem See und den Bergen im Blick.

Zeitschrift «Switzerland – Fount of Health» aus dem Jahr 1943 aus dem Bestand der Hauptbibliothek – Medizin Careum

Das Landesmuseum wollte damals eigentlich eine Ausstellung zum Birchermüesli machen. Wir haben das dann weiterentwickelt, weil wir diese thematische Breite der Schweiz als Gesundheitsparadies sahen. Ich hatte einen Schlüsselmoment in der Bibliothek, als mich eine Bibliothekarin auf eine Zeitschrift aus dem Jahr 1943 mit dem Titel «Switzerland – Fount of Health» aufmerksam machte. Mitten im Zweiten Weltkrieg warb die Schweizer Verkehrszentrale mit einer englischsprachigen Sondernummer ihrer Werbezeitschrift für die Schweiz als «Sanatorium der Welt», dargestellt mit den Gesundheitsfaktoren Licht, Luft und Wasser.

Bei der Sichtung der Kurorte-Sammlung hat mich die Anzahl und Vielfalt der beworbenen Kurorte erstaunt. Es gab in der Schweiz unzählige kleine Bäder, Luftkurorte, Wasserheilanstalten usw. War der Kurtourismus tatsächlich ein derartiges Massenphänomen?

Ja, das war so. Die Idee der Kur im 19. Jahrhundert ist ein komplexes Phänomen, das noch wenig untersucht ist. Es ging um bürgerliche Selbstsorge, einen aktiven Umgang mit dem Körper. In dieser Zeit wurde anatomisches und physiologisches Wissen popularisiert, Hausarztbücher erreichten hohe Auflagen. Es war das Zeitalter der Industrialisierung und der Verstädterung. Es gab gleichzeitig eine grosse Zuversicht in den technischen Fortschritt und eine Hinwendung zum Natürlichen. Balneologie und medizinische Klimatologie waren als physikalische Therapien Teil der damaligen Schulmedizin. Die Übergänge zu den vielerorts in den Kurorten praktizierten Naturheilverfahren waren aber fliessend.

Das Schöne an dieser Broschürensammlung ist, dass diese gleichzeitig stattfindende Vielfalt sichtbar wird. Das Kurortewesen ist sozusagen ein grosser See mit ganz vielen Zuflüssen. Da gab es die Thermalbäder, die Tuberkulosesanatorien, Kliniken für Nervenkranke, Tourismusorte, die eher Erholung und Sport boten, alternativmedizinische Wasserheilanstalten und so weiter. Der Gesundheitstourismus war ein Ausdruck von ganz vielen Faktoren.

Durch die Masse des Angebots könnte der Eindruck entstehen, dass jeder halbwegs schön gelegene Ort auch ein bisschen Kurort sein wollte. Man muss aber bedenken, dass das grosse Angebot auch viel Nachfrage vermuten lässt.

Man legte im damaligen Verständnis von Gesundwerden viel Wert auf Schonung. Das lange Liegen an der Sonne und in der frischen Luft passte in dieses Konzept. Nicht zuletzt konnte es sich die neue bürgerliche Mittelschicht auch finanziell und zeitlich leisten, eine Reise auf sich zu nehmen und dann mehrere Wochen in einen Kurort der Erholung des Körpers zu widmen.

Welche Spuren dieser Gesundheitsvorstellungen siehst du noch heute?

Die Selbstsorge – das aktive Arbeiten am eigenen Körper – ist immer noch ein wichtiges Thema. Heute spricht man skeptisch von Selbstoptimierung, was ich etwas unpassend finde, weil es einen Kulturpessimismus ausdrückt. Selbstoptimierung wird als Zwang verstanden, als ein ständiges Arbeiten an sich selbst auf ein Ziel hin, das nie ganz erreicht werden kann. Man kann diese Selbstsorge aber auch als eine Art Selbstermächtigung verstehen.

Publikation:
Graf, Felix, Wolff, Eberhard, & Schweizerisches Nationalmuseum.
Zauberberge : Die Schweiz als Kraftraum und Sanatorium. Baden: hier + jetzt, 2010

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