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Der Medizinhistoriker Flurin Condrau über Lungensanatorien

11. November 2019 | Esther Peter | Keine Kommentare |

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Prof. Dr. Flurin Condrau ist Medizinhistoriker an der Universität Zürich. Er verfasste seine Dissertation zur Sozialgeschichte der Lungenheilanstalten und publizierte seither über verschiedene Aspekte der Geschichte der Tuberkulose.

Mit Prof. Dr. Flurin Condrau sprach Ursula Reis, Fachreferentin für Medizingeschichte der Hauptbibliothek – Medizin Careum.


Du hast Dich ja bereits für Deine Dissertation mit Lungenheilanstalten befasst. Wie bist du auf das Thema gekommen?

Mich interessierte zuerst die Tuberkulose als Armutskrankheit, als Thema in der Sozial- und Gesundheitspolitik. Hier stiess ich darauf, dass ab 1880 viel Hoffnung in die Behandlung breiter Bevölkerungsschichten in Volksheilstätten gesetzt wurde. Ich fragte mich, wie diese Idee aufkam und wer das finanzierte. Wie kam es dazu, dass arme Kranke in Kurorten behandelt werden sollten, die bis dahin der Oberschicht vorbehalten waren?

Die Kurorte-Sammlung der Bibliothek enthält viele reich bebilderte Werbebroschüren von privaten Lungenheilanstalten, vor allem aus Davos und Arosa. Aus Volksheilstätten sind eher Kurvorschriften und ähnliche Dokumente überliefert. Es entsteht der Eindruck, dass es sich um sehr verschiedene Institutionen handelt. Eher um Hotels im Fall der privaten Anstalten und schon fast Erziehungsanstalten bei den Volksheilstätten. Waren das wirklich zwei getrennte Welten?

Grundsätzlich ja. In Davos trafen jedoch die zwei Welten aufeinander. Hier gab es gleichzeitig Volksheilstätten und Luxussanatorien. Reiche Patientinnen und Patienten interessierten sich ebenso für den Ruf der Ärzte, für das Unterhaltungsangebot und das im Speisesaal servierte Essen. Sie wählten den Kurort, das Sanatorium aus und trafen auch den Entscheid zur Kur selbst. In den Volksheilstätten war das anders. Die armen Kranken erhielten eine verordnete Kur, die von frühen Krankenkassen oder Fürsorgeämtern bezahlt wurde. Sie erhielten Anweisungen, an die sie sich halten mussten und hatten einen streng geregelten Tagesablauf.

Dabei spielte die sogenannte hygienische Disziplinierung eine grosse Rolle. Es gab ja kein Medikament zur Heilung. Der Aufenthalt im Lungensanatorium sollte vielmehr die Selbstheilungskräfte aktivieren, durch gute Ernährung, das Klima und den richtigen, eben hygienischen Tagesablauf. Die Patientinnen und Patienten wurden also letztlich angehalten, sich durch die Anpassung ihres Verhaltens selber zu heilen. Damit verbunden war auch der indirekte Vorwurf, man habe sich durch das falsche Verhalten fast selber krankgemacht. Gerade die Stadt wurde als Krankheitsort wahrgenommen. Nicht nur wegen der Wohnverhältnisse oder der Luftverschmutzung, sondern auch moralisch, etwa in den Wirtshäusern oder dem sogenannten Nachtleben. Die Sanatorien waren also eng verbunden mit Moralvorstellungen der damaligen Zeit.

Es gibt in unserer Sammlung Broschüren von privaten Anstalten, die ebenfalls Liegekuren im Höhenklima anbieten, aber laut Prospekt keine Patientinnen und Patienten mit Lungentuberkulose aufnahmen. Wurde die Liegekur auch für andere Krankheiten eingesetzt? Oder wie ist das zu verstehen?

Die Idee der Liegekur war ja, dass langes Atmen an der frischen Luft die Selbstheilungskräfte stärkt. Die Therapie wurde zur Behandlung der Tuberkulose erfunden, konnte aber auch bei anderen Krankheiten eingesetzt werden.

Die Frage, wer aufgenommen werden sollte, war zentral für jede Institution. Wenn eine allgemeine Kuranstalt Tuberkulosekranke aufnahm, kamen keine anderen Gäste mehr. Aber selbst für die Lungensanatorien stellte sich diese Frage. Auch sie wollten keine hochansteckende oder gar sterbende Kranken. Es gab immer dieses Spannungsverhältnis, welche Kranken wollte man zulassen, wie konnte man die Betten füllen? Da konnte es für ein Sanatorium sogar attraktiver sein, lediglich sogenannt Gefährdete zur Kur aufzunehmen. Da Gefährdete wohl niemals krank waren, konnte man sie später als geheilt entlassen, was wiederum gut für die Erfolgsstatistik war.

Welche Bedeutung hatten die Lungensanatorien für die Schweiz, etwa für Davos und Umgebung?

Davos wie wir es heute kennen entstand mit seiner Infrastruktur, dem Tourismus und der internationalen Strahlkraft ja erst durch die Lungensanatorien. Als Spengler seit den 1850er Jahren mit der Höhenkur in Davos begann, handelte es sich ja noch um ein Dorf in den Bergen. Das änderte sich aber relativ rasch, als ab den 1860er Jahren auch Winterkuren durchgeführt wurden.

Ab ungefähr 1900 war die Davoser Kombination von Sport, Tourismus und Gesundheit nahezu einzigartig. Es gab auch andere bedeutende Kurorte für die Tuberkulosebehandlung im In- und Ausland, aber die Davoser Verbindung ganz unterschiedlicher Infrastrukturen blieb weitestgehend unerreicht. Neben dem boomenden Sanatoriumssektor fanden in Davos internationale Sportveranstaltungen statt, die Natureisbahn erlangte legendären Status in Europa, der Berg- und Skisport etablierte sich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Davos auch noch auf Kongresse als weiterem Standbein. Hinzu kam, dass in Davos früh auch Forschungsinstitutionen gegründet wurden. Das ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von Davos: Lungensanatorien waren ja nicht besonders hoch angesehene Standorte der Medizin, aber durch die Verbindung zur Forschung gelang es Davos, den Status des Standortes insgesamt zu heben.

Die Idee, sich wochenlang zur Kur zu begeben, liegt uns heute eher fern. Was ist eigentlich geblieben von den Kurorten und ihren Therapiekonzepten?

Einerseits gibt es die Wellnessangebote, wobei diese heute eher nicht Teil eines medizinischen Angebots sind. Sie wenden sich an eine zahlende Kundschaft als Teil eines sportlichen Lebensstils. Manche Lungensanatorien wurden nach dem Ende der Tuberkulosebehandlung zu Reha-Kliniken umgewandelt. Die Geschichte der Reha ist schlecht erforscht, aber es gibt doch Hinweise darauf, dass eine gute Reha auch heute oftmals zum medizinischen Erfolg beiträgt.

Die Kurorte beruhten auf einem hygienischen Verständnis von Gesundheit. Die wissenschaftliche Hygiene war eine wichtige medizinische Disziplin, die gesellschaftliche Herausforderungen wie etwa Trinkwasserversorgung und Abwassersanierung mit Aspekten der individuellen Lebensführung verband. Die Spezialisierung der Medizin war ja um 1900 noch wesentlich weniger entwickelt als heute. Vieles was die Medizin bot oder worüber sie nachdachte, liess sich unter dem Begriff der Hygiene zusammenfassen. Die Sanatorien trugen ihren Teil zu dieser Hygienisierung des Alltags bei, indem sie die individuelle Lebensführung auf wissenschaftlicher, das heisst hygienischer Grundlage mitprägten. Das war damals mehr oder weniger neu.

Ausgewählte Publikationen:

Flurin Condrau and Janina Kehr. Recurring revolutions? Tuberculosis treatment in the era of antibiotics. In: Jeremy A. Greene, Flurin Condrau and Elizabeth Siegel Watkins (eds.). Therapeutic revolutions. Chicago: The University of Chicago Press, 2016, S. 126-149.

Flurin Condrau and Michael Worboys (eds.). Tuberculosis then and now : perspectives on the history of an infectious disease. Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2010.

Flurin Condrau. Urban tuberculosis patients and sanatorium treatment in the early twentieth century. In: Anne Borsay and Peter Shapely (eds.). Medicine, charity and mutual aid. Aldershot: Ashgate, 2007, S. 183-205.

Flurin Condrau. Frauen in Lungenheilanstalten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland und England. In: Merith Niehuss und Ulrike Lindner (Hg.). Ärztinnen – Patientinnen. Köln: Böhlau, 2002, S. 199-214.

Flurin Condrau. „Who is the captain of all these men of death?“ : the social structure of a tuberculosis sanatorium in postwar Germany. In: Journal of interdisciplinary history 32 (2001), S. 243-262.

Flurin Condrau. Behandlung ohne Heilung: zur sozialen Konstruktion des Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahrhundert. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 19 (2000), S. 71-94.

Flurin Condrau. Lungenheilanstalt und Patientenschicksal: Sozialgeschichte der Tuberkulose in Deutschland und England im spätern 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000.

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