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Drei Fragen an Iris Ludwig zum «Year of the Nurse and the Midwife»

2. März 2020 | Martina Gosteli | Keine Kommentare |

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Die diplomierte Pflegefachfrau und Erziehungswissenschaftlerin Iris Ludwig war langjährige Berufsschullehrerin und Pflegedidaktikerin. Sie war massgeblich an der Einführung von innovativen Lehrformen wie Skills-Labs und Problem Based Learning in der Schweiz beteiligt. Am Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe WE’G in Aarau gründete und leitete sie von 1996 bis 2006 den ersten pflegewissenschaftlichen Studiengang der Schweiz, der in Kooperation mit der Universität Maastricht angeboten wurde. Heute ist Iris Ludwig freiberuflich in der Beratung und Schulung für Gesundheitsfachleute tätig.

Interview: Ursula Reis, Josef Kälin

Video-Interview mit Iris Ludwig, MA, aus der Ausstellung in der HBZ – Medizin Careum

Du hast zu Beginn Deiner Laufbahn über fachdidaktische Themen publiziert, dem Arbeitsplatz als Lernort, Skills-Labs, und so weiter. In jüngster Zeit befasst Du Dich mit Themen der intra- und interprofessionellen Zusammenarbeit, hast ein Buch zum Skill- und Grademix veröffentlicht. Wie kamst Du vom einen zum anderen?

Iris Ludwig: Das ist eine sehr treffende Darstellung meiner Entwicklung. Mich interessierte immer die Pädagogik in der Pflege. Mit dem Masterstudiengang am WE’G bewegten wir uns auf einem hohen beruflichen Niveau. Es war ein grosser Erfolg, dass wir ein pflegewissenschaftliches Studium anbieten konnten. Nachher hatte ich aber Lust auf etwas Neues. Da kam mir das Angebot gerade Recht, Skill- und Grademix Projekte zu begleiten. Ich machte mich selbstständig. Seither habe ich immer auf beiden Hochzeiten getanzt – einerseits mache ich fachdidaktische Beratungen und Schulungen und andererseits Beratungsmandate zu Skill- und Grademix, also zur intraprofessionellen Zusammenarbeit.

Das Buch «Wir brauchen sie alle» dokumentiert meine jahrelange Beratungstätigkeit zu Skill- und Grademix. Es widerspiegelt, was ich in den Projekten in den verschiedenen Versorgungsbereichen vorgefunden habe. Es war mir wichtig, dass ein solches Buch – für mich auch ein Ersatz für die Dissertation, die ich nie geschrieben habe – auch in der Praxis einsetzbar ist. Jemand aus der Spitex, zum Beispiel, kann Anregungen finden, wie andere Institutionen das Personal der verschiedenen Ausbildungsniveaus einsetzen. Die Erkenntnisse können zur Personalplanung eingesetzt werden, oder um Stellenprofile zu formulieren. In der Pflege gibt es heute sechzehn Berufe auf verschiedenen Niveaus. Es ist für jeden Versorgungsbereich wichtig zu wissen, welche Berufspersonen eingesetzt werden und wie deren ganz individuelle Kompetenzen genutzt werden können.

Als selbstständig tätige Beraterin hast Du Einblick in zahlreiche Institutionen im Gesundheitsbereich. Wie beurteilest Du in diesem Zusammenhang die Zufriedenheit Pflegepersonals mit der beruflichen Situation?

Iris Ludwig: Die Pflegenden am Bett sind unter grossem Druck. Sie spüren, dass zu wenig Personal vorhanden ist und leiden teilweise auch unter Sparmassnahmen, dass zum Beispiel Weiterbildungen nicht finanziert werden. Die hohe Fluktuation und die kurze Verweildauer im Beruf deuten auf eine mangelnde Zufriedenheit hin.

Studien, die in letzter Zeit zu dem Thema gemacht wurden, kommen aber zum Schluss, dass die Mehrheit der Fachpersonen in der Pflege ihre Situation eher positiv beurteilen. In meiner Tätigkeit hatte ich Einblick in Betriebe in Deutschland und Österreich. Im Vergleich sind die Weiterbildungsmöglichkeiten und auch die Förderung im Betrieb bei uns viel besser – auch die Stellung der Pflege generell. Grossartig finde ich, dass in der Schweiz auch nahe am Patientenbett sehr gut qualifiziertes Fachpersonal aus der Pflegewissenschaft erwünscht und gesucht ist. Das erlebe ich in anderen Ländern schwieriger. Gut ausgebildete Fachleute finden fast nur in der Führung oder an Schulen entsprechende Stellen.

Wir führen dieses Interview anlässlich des «Year of the Nurse and the Midwife», das die WHO für das Jahr 2020 weltweit ausgerufen hat. Du beschäftigst Dich schon seit Jahren mit berufspolitischen Themen. Was glaubst Du, braucht es, um die Pflege in der Schweiz zu stärken?

Iris Ludwig: Ich finde, dass wir schon viel erreicht haben. Man kann Pflegewissenschaft studieren und es etablieren sich entsprechende neue Rollen. Zwei Ausbildungswege auf Tertiärniveau – Höhere Fachschule und Fachhochschule – sind weitgehend etabliert. Mit den Fachangestellten Gesundheit (FaGe) wurde ein Beruf geschaffen, der grosse Anerkennung verdient. Unser Berufsbildungssystem ist zwar etwas stark gegliedert und für Aussenstehende nicht so leicht verständlich. Aber genau dieses differenzierte Bildungssystem macht es möglich, unsere Vielfalt optimal zu nutzen – falls es uns gelingt, in den kommenden Jahren die Profile noch zu schärfen.

Verbesserungsbedarf sehe ich bei der Positionierung der FaGe als eigene Berufsgruppe, die dringend gebraucht wird, um unsere Versorgung sicher zu stellen. Es kann nicht sein, dass dieser Beruf nur als Zwischenstufe zu einer tertiären Ausbildung gesehen wird, wo wir einen Mangel haben. Die FaGes brauchen eigene Weiterbildungsmöglichkeiten, damit sich die Berufsleute in den Betrieben weiterentwickeln können. Ich habe kürzlich einen Workshop moderiert, wo es um attraktive Rollen für FaGes ging. Es gibt Betriebe, die bereits sehr interessante Laufbahnmodelle entwickelt haben.

Unser grösstes Problem in der Schweiz ist sicher der Fachkräftemangel. Wir müssen die Versorgung sicherstellen. Ich glaube, dass durch eine Flexibilisierung der Berufsbildung für Erwachsene noch mehr interessierte Personen für einen Pflege- oder Gesundheitsberuf gewonnen werden könnten. Heute sind die Regeln relativ starr, es sind lange Praktika und viel Präsenzzeit für die Ausbildung vorgeschrieben. Wir sind noch lange nicht so weit, dass wir das Potential aller «für die Pflege sensiblen» Personen in der Gesellschaft nutzen würden.

Ursula Reis und Josef Kälin sind Fachreferenten der Hauptbibliothek – Medizin Careum

Ausgewählte Publikationen:

Ludwig, Iris. (2015). Wir brauchen sie alle – Pflege benötigt Differenzierung = Soins et accompagnement – une diversité nécessaire des métiers. Nidda: Hpsmedia.

Ludwig, Iris und Schäfer, Monika (2011). Die Differenzierung beruflicher Funktionen in der Pflege als Herausforderung und Chance. In: Käppeli, Silvia (Hrsg.). Pflegewissenschaft in der Praxis: Eine kritische Reflexion (Pflegewissenschaft). Bern: Huber, S. 24-41.

Ludwig, Iris (et al) (2007). Der richtige Mix bringt’s! Handbuch für Projekte zu Skill- und Grademix im Bereich Pflege und Betreuung. Basel: OdA Gesundheit beider Basel.

Ludwig, Iris. (2006). Studieren geht über Probieren: Pflegewissenschaft und Pflegeentwicklung in der Schweiz: Jubiläumssschrift des Master in Nursing Science WE’G Aarau, CH [und] Universität Maastricht, NL. Hungen: Hpsmedia.

Ludwig, Iris. (2004). Das Skillslab im Lichte aktueller Entwicklungen im Bereich Pflege und Betreuung der Schweiz. In: Ludwig Iris (et al. Hrsg.) Pflege lehren und lernen: Pädagogische und fachdidaktische Impulse zur Ausbildung im Gesundheitswesen (Pädagogik). Bern: Hep-Verl.

Jürg Brühlmann, Iris Ludwig, Renate Schwarz Govaers (2000). Der Arbeitsort als Lernort in der Ausbildung für Pflegeberufe (Vol. Bd. 8, Pädagogik bei Sauerländer. Dokumentation und Materialien). Aarau: Sauerländer.

Ludwig, Iris. (1994). Berufsbildungsmodell „Pflege“ : Vom Arbeitsort zum Lernort. Aarau: Verlag der Kaderschule für die Krankenpflege.

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