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Die Stadt Zürich ehrte den Zürcher Dermatologen Max Tièche (1878-1938) im Jahr 1947 mit der Benennung einer Strasse. Sein grosser Verdienst war die Gründung der ersten städtischen Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten, die direkt im Arbeiterquartier Aussersihl einkommensschwache Patientinnen und Patienten zu niedrigen Tarifen behandelte. Weniger bekannt ist, dass Max Tièche auch ein gefragter Experte für Pocken war.
Erste Selbstversuche mit Pocken
Bereits als junger Arzt führte Max Tièche Versuche mit Pockenmaterial an sich selber durch. Dabei bezog er sich auf die Selbstversuche des Wiener Arztes Clemens von Pirquet. Dieser hatte wiederholt Pockenvakzine bei sich selber eingeimpft und stellte nach einer gewissen Zeit Reaktionen der Haut fest, für welche er den Begriff «Allergie» erfand. Pirquet publizierte seine Selbstversuche 1907. Tièche war zu dieser Zeit mehrmals als Pockenarzt bei kleineren Epidemien im Einsatz. Er nutze die Gelegenheit, sich zu Versuchszwecken nicht Vakzine, sondern Pockenmaterial einzuimpfen, das er den Pusteln von Erkrankten entnommen oder von behandelnden Ärzten zugeschickt bekommen hatte.
Solche Versuche führte Tièche in den folgenden Jahren viele hundert Mal durch, nicht nur an sich selbst, sondern auch an seiner Frau Sabine Tièche, die ebenfalls als Ärztin in der Poliklinik arbeitete, sowie an weiteren Mitarbeitenden. Zuverlässig zeigte die Haut eine allergische Reaktion.
Ein zuverlässiges Testresultat in wenigen Stunden
1911 publizierte Max Tièche erstmals seine neue Methode zur Unterscheidung von Pocken und Windpocken in unklaren klinischen Fällen, allerdings ohne dass sich diese Diagnostik durchgesetzt hätte. 1921 bemerkte Tièche, dass sich seine Empfindlichkeit verstärkt hatte. Bereits nach 4-5 Stunden stellte er bei Material eines Pockenpatienten eine Hautreaktion fest, während es 1911 noch über 10 Stunden gedauert hatte.
Ähnlich wie bei der Covid-19 Pandemie war die schnelle und zuverlässige Diagnose der Pocken von grosser Bedeutung für die möglichst rasche Früherkennung und die Isolation der Betroffenen. Die letzte grosse Schweizer Pockenepidemie von 1921-1925 war in dieser Hinsicht ganz besonders aussergewöhnlich. Das Virus hatte seine Pathogenität verändert und war weniger aggressiv, war aber klinisch kaum mehr von den viel harmloseren Windpocken zu unterscheiden. Trotzdem bestand jederzeit die Gefahr, dass es wieder zu schweren Krankheitsverläufen kommen konnte, wie das an anderen Orten auch geschah. Die Möglichkeiten eines Tests waren beschränkt. Eine Methode mittels Tierversuches an einem Kaninchen war aufwändig, konnte nur in Speziallabors durchgeführt werden und das Resultat stand frühestens nach 3 Tagen fest.
Es erstaunt deshalb nicht, dass Max Tièche in dieser Situation zum gefragten medizinischen Experten wurde. Zahlreiche von der Epidemie betroffene Städte und Regionen schickten im Proben und liessen sich von ihm beraten. Der Zürcher Stadtarzt Max Kruckner betont in einem Nachruf die grossen Verdienste von Tièche während der Zürcher Epidemie 1921-1923. Dank seinen raschen Diagnosen konnten die Amtsärzte in vielen Einzelfällen entweder schnell durchgreifen oder unnötige lokale «Lockdowns» mit ihren damals ebenfalls schwerwiegenden wirtschaftlichen Konsequenzen verhindern. Gut möglich, dass die Diagnosen von Tièche tatsächlich einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pocken in der letzten Schweizer Epidemie geleistet haben.
War Max Tièche ein Held oder ein Aussenseiter?
Natürlich bestand bei der Testmethode von Max Tièche die Gefahr einer Übertagung von anderen Krankheiten, insbesondere der Syphilis oder andern Bakterien wie Streptokokken. Um dies zu verhindern, wurde das Testmaterial entweder in Äther gelöst, gekühlt oder erhitzt. Selbstverständlich blieb ein Risiko bestehen, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass sich nach dem Tod von Tièche niemand finden liess, der in seine Fussstapfen treten mochte.
Heute würden Methoden mit Selbstversuchen von keiner Ethikkommission zugelassen und könnten bestimmt nicht publiziert werden. Doch wie wurde das von Zeitgenossen beurteilt? Es ist zwar auffällig, dass Tièche und seine Mitarbeitenden die einzigen waren, die solche Tests durchführten. Tièche trat als Einzelgänger auf und es gab keine wissenschaftliche Zusammenarbeit, zum Beispiel mit der Klinik für Dermatologie und Venerologie der Universität Zürich. Andererseits gibt es aus der Zeit zahlreiche Publikationen von Selbstversuchen und Versuchen an Personal, die kaum thematisiert und schon gar nicht problematisiert wurden.
Max Kruckner äusserte sich jedenfalls bewundernd über das selbstlose Handeln von Tièche: «Es grenzt fast ans Unbegreifliche, wie viel Fremdstoffe Dr. Tièche während der oben erwähnten Epidemie seinem Körper einverleibt hat. Ein solches Opfer kann nur ein Mensch bringen, der sich, wie Dr. Tièche, der Allgemeinheit verpflichtet fühlt und der zusammen mit seiner Gattin, seiner treuen Mitarbeiterin und verständnisvollen Helferin, stets ein offenes Auge für soziale Fürsorge im Allgemeinen hatte und im Stillen viel zur Linderung sozialen Elendes seiner Schutzbefohlenen beigetragen hat. » (1)
Dieser Text basiert auf einem Vortrag von Dr. Michael L. Geiges «1921 Smallpox self-inoculation as a diagnostic test: Max Tièche – Hero or Eccentric?» History of Dermatology and Venereology Session at the 29th EADV Congress, 29th-31st October 2020.
(1) M. Kruckner. Die Bedeutung von Dr. M. Tièche für die Bekämpfung der Pockenepidemie in den Jahren 1921-1923. In: Erinnerungen an Max Tièche, 1878-1938. Zürich, 1939. S. 26.