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Impfkritik ist so alt wie das Impfen selbst. In der Schweiz wurde sie mit der Abstimmung zum eidgenössichen Epidemiengesetz 1882 erstmals zu einer politischen Frage. Nach einem hitzigen Abstimmungskampf wurde das Gesetz von fast 80% der Stimmbürger wuchtig verworfen. Was waren die Gründe dafür und warum blieb die Impfung trotz Pockenepidemie umstritten?
Katholisch-konservativer Widerstand
Das Epidemiengesetz und damit das Impfobligatorium auf Bundesebene wurde besonders deutlich in der katholischen Innerschweiz, dem Wallis und der Ostschweiz abgelehnt. Es ist unklar, welche Rolle in diesen ländlichen Kantonen religiöse Bedenken oder Vorbehalte gegen die akademische Medizin spielten. Für die katholisch-konservative Partei, die gemeinsam mit dem Verein der Impfzwanggegner das Referendum ergriffen hatte, waren politische Motive sicher ebenso entscheidend. Der Bundesrat bestand seit seiner Gründung nach dem Sonderbundskrieg ausschliesslich aus Vertretern des Freisinns. Die Katholisch-Konservativen nutzen jede Gelegenheit, mit Referenden auf deren Politik Einfluss zu nehmen und die Selbstbestimmung der Kantone zu verteidigen.
Die Freunde naturgemässer Heilweise
In Zürich und in anderen eher städtischen Regionen waren es Vertreter der aufkommenden Naturheilkunde, die sich besonders leidenschaftlich gegen den Impfzwang einsetzen. Sie lehnten die Vakzine als unnatürliches «Impfgift» ab. Stattdessen empfahlen sie «eine vernünftige, naturgemässe Lebensart» mit frischer Luft, Bewegung und Reformkost um «die innere Kraft, die Eigenkraft, die Naturheilkraft des Organismus anzuregen, dass er sich selbst wieder herstellt und Störungen ausgleicht. » (1) In diesem Verständnis wurden die Pocken – trotz hoher Todesrate und bleibenden Beeinträchtigungen – als natürlicher Heilprozess des Organismus gesehen, bei welchem über die Haut schädliche Stoffe ausgeschieden wurden. Viele Impfgegner lehnten die akademische Medizin allgemein ab und warfen den Ärzten vor, von der Impfpflicht wirtschaftlich profitieren zu wollen.
Eingeschränkter Impfzwang
Als die Schweiz ab 1921 wieder mit einer grösseren Pockenepidemie konfrontiert wurde, kam die Debatte über die Impfflicht erneut auf. Die Pocken breiteten sich fast ausschliesslich in den Kantonen aus, welche die Impfpflicht aufgehoben hatten. Es erkrankten Personen, die nicht geimpft waren oder deren Impfung schon länger nicht aufgefrischt worden war. 1923 führte der Bundesrat die Impfpflicht nun doch noch per Verordnung ein, allerdings nur beim Auftreten der Krankheit in betroffenen Gebieten und Bevölkerungsgruppen zur Verhinderung einer Epidemie. Diesmal kam der Widerstand aus der sozialdemokratischen Partei, die die Impfpflicht als Eingriff in die persönliche Freiheit bezeichnete, sich aber nicht durchsetzen konnte. Eine allgemeine Impflicht blieb weiterhin nicht politisch mehrheitsfähig.
Unerwünschte Nebenwirkungen der Impfung
Immer wieder erschienen in der Presse Mitteilungen über schwere Erkrankungen und sogar Todesfälle, welche mit der Pockenimpfung in Zusammenhang gebracht wurden. 1881 berichtete die Bülacher-Wochenzeitung und das Zürcher Volksblatt über Kinder in Riesbach, die bei der Pockenimpfung mit Syphilis angesteckt worden sein. Eine Untersuchung des Kantonsspitals fand mehrere Kinder mit Hautausschlägen in Folge der Impfung, aber keine Syphilis. (2) Eine solche Ansteckung wäre aber durchaus möglich gewesen, weil noch die Arm-zu-Arm Methode zum Einsatz gekommen war. Die Riesbacher Kinder waren mit dem Eiter aus den Impfpusteln von zuvor in Hirslanden vakzinierten Kindern geimpft worden. Dieses Risiko wurde minimiert, als sich kurz darauf die in Impfinstituten auf der Haut von Rinder produzierte animale Lymphe durchsetzte.
1925 erregte ein Fall aus Pruntrut grosses Aufsehen, wo ein Kind an einer Meningitis starb, das kurz zuvor geimpft worden war. Diese seltene Nebenwirkung des Pockenimpfstoffes ist heute dokumentiert, damals war der Zusammenhang noch unsicher.
Das eidgenössische Gesundheitsamt reagierte mit einer Impfkonferenz, an der führende Ärzte der Zeit teilnahmen. Hermann Sahli, Direktor des Berner Inselspitals, schlug selbstkritische Töne an: «Überhaupt bezweifle [ich] nicht, dass Impfschädigungen tatsächlich vorkommen, auch wenn deren Existenz früher auch von ärztlicher Seite, vielleicht etwas unvorsichtig, geleugnet wurde. Es verhält sich mit Impfung wie mit manchem anderen therapeutischen Eingriffe, von dessen Nutzen wir überzeugt sind; unangenehme Zwischenfälle werden sich aber nie gänzlich vermeiden lassen. » (3) Die Teilnehmer der Konferenz einigten sich darauf, dass Impfschädigungen genau untersucht werden, der Unterricht der Impftechnik an den Hochschulen verbessert und nach Möglichkeit mildere Impfstoffe verwendet werden sollten.
Nur noch die Narbe erinnert an die Impfung
Die Geschichte der Pockenimpfung kann wohl im Nachhinein als Erfolg bezeichnet werden. Bis heute sind die Pocken die einzige Infektionskrankheit, die durch Impfen komplett ausgerottet wurde. Als die WHO die Welt 1980 offiziell als pockenfrei erklärte, stellte auch die Schweiz ihre Impfprogramme ein. Heute erinnert nur noch kreisförmige Narbe am Oberarm der vor 1980 geborenen an die Impfung mit der langen Geschichte.
Anmerkungen
(1) Ist der Impfzwang berechtigt? Eine Kritik der Impfschutz-Theorie nebst Anleitung zu einer Behandlung und Verhütung der Pocken (Blattern). Anonym. Bern, 1894. S. 3.
(2) Die angeblichen Impfschädigungen in Hirslanden und Riesbach. Beilage No. 25 der Blätter für Gesundheitspflege 10, 1881.
(3) Konferenz über Impffragen vom 10. Januar 1925 im eidgenössischen Gesundheitsamt in Bern. Beilage zum «Bulletin des eidgenössischen Gesundheitsamtes», 1925, Nr. 40, S. 4-5.