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«Die Impfgegner waren nicht nur Spinner» Eberhard Wolff und Iris Ritzmann über die Geschichte der Impfkritik

19. April 2021 | HBZ | Keine Kommentare |

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Der Kulturanthropologe Prof. Eberhard Wolff und die Medizinhistorikerin Prof. Iris Ritzmann befassen sich beide schon seit vielen Jahren mit der Geschichte der Pockenimpfung und haben zu impfkritischen Bewegungen in der Schweiz und in Deutschland geforscht. Im Interview sprechen sie über Parallelen zwischen damals und heute.

Interview: Ursula Reis

Seht ihr Gemeinsamkeiten zwischen der Kritik an der Pockenimpfung im 19. Jahrhundert und heutigen Impfskeptikern?

Eberhard Wolff: Seit den Anfängen der Impfkritik gibt es zwei Hauptstränge der Argumentation gegen Impfungen: Es ist die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Impfung und gegenüber ihrer Sicherheit. Etwas genauer ausgeführt wird in Frage gestellt, ob die Impfung die Krankheit tatsächlich verhindert und ob sie nicht doch vielleicht irgendwelche schädlichen Nebenwirkungen hat. Natürlich gibt es noch viel mehr, aber diese zwei Hauptargumente sind zeitübergreifend.

Die Argumentation der jeweiligen Impfgegner ist dann wiederum sehr zeittypisch und hängt vom Umfeld ab. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es zum Beispiel sehr viele andere medizinkritische Bewegungen, die sich sehr für Naturheilkunde und gegen eine akademisierte und professionalisierte Medizin ausgesprochen haben. Neben den Impfgegnern, die sich zu organisieren begannen, gehörten zu diesem medizinkritischen Milieu auch Naturheilvereine und Tierversuchsgegner. Die meisten dieser Vereine waren impfkritisch eingestellt. Diese kulturelle Prägung der Impfgegner durch die medizinkritischen Bewegungen war wohl auch in den 1920er Jahren noch wirksam, zur Zeit der letzten Schweizer Pockenepidemie.

Im frühen 19. Jahrhundert sah es noch anders aus. Da gab es noch keine Naturheilvereine. Es waren eher Einzelpersonen, die sich gegen die Pockenimpfung gewehrt haben, skeptische Ärzte oder auch betroffene Eltern. In Deutschland wurden etwa ab 1860 impfgegnerische Vereine gegründet, die dann auch impfkritische Schriften publizierten. Die Bewegung wurde dann sehr stark, als in Deutschland 1874 – nach dem gehäuften Auftreten von Pocken im Zusammenhang mit dem deutsch-französischen Krieg – der allgemeine Impfzwang eingeführt wurde.

Und in der Schweiz?

Iris Ritzmann: In der Schweiz war es ähnlich. Die Impfgegner begannen sich zu organisieren, als mit dem eidgenössischen Epidemiengesetz 1882 ein staatlicher Impfzwang eingeführt werden sollte. Impfgesetze gab es schon vorher, aber nur kantonal, nicht bundesweit.

Man muss auch sagen, die Impfgegner waren nicht nur Spinner. Gerade in den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert hätte man ohne Impfgegner wahrscheinlich nicht so schnell entdeckt, dass eine Impfung nicht genügt, sondern dass es eine Revakzination braucht. Häufig waren es besorgte Eltern, die Beobachtungen machten, zum Beispiel, dass die Wunde sich bei einem Kind stark entzündete. Die Pockenimpfung war auch nicht ohne Risiko. Sie gilt heute noch als gefährliche Impfung. Man muss sich vorstellen, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts entnahm man den Impfstoff einer eitrigen Pustel und impfte ihn dann einem gesunden Kind ein. Es kam nicht selten zu unerwünschten Nebenwirkungen. Es erstaunt deshalb nicht, dass es auch Widerstand gab. Daraus entwickelten sich dann die Organisationen der Impfgegner als die Frage eine politische wurde.

Es fällt auf, dass das Epidemiengesetz in der Abstimmung von 1882 in den katholischen Regionen besonders heftig verworfen wurde. Es wird vermutet, dass die gläubige katholische Bevölkerung aus religiösen Vorbehalten gegen das Impfen war. Habt ihr Quellen dazu gefunden?

Eberhard Wolff: Das ist eine interessante Frage. Solche Begründungen finden sich tatsächlich immer wieder bei den Impfbefürwortern, dass die Bevölkerung die Impfung ablehne, weil sie die Krankheit als Gottes Wille empfinde und ähnliches. Ich habe selber nach entsprechenden Quellen gesucht, aber kaum welche gefunden. Unterdessen denke ich immer mehr, dass der politische und der Ideenort der Impfgegnerschaft fortlaufend wechselt. Häufig gibt es eine kulturelle Bruchstelle oder eine politische Spannung. Wenn dann noch ein Impfzwang als starker staatlicher Druck hinzukommt, dann kracht es. Es geht dann nicht mehr unbedingt um den Katholizismus. Der junge Bundesstaat begann zu zentralisieren. Es kam Druck von den eher städtischen, reformierten Orten. Die katholischen Kantone befürchteten, ihre Autonomie zu verlieren.

Iris Ritzmann: Es ist nicht so, dass besonders religiöse Gesellschaften eher gegen die Impfung waren. Teilweise wurde auch bei den Befürwortern der Zwangsimpfung gesagt: Gott schickt uns die Impfung. Sie ist ein Geschenk.

Eberhard Wolff: Für meine Dissertation habe ich mit Quellen von radikalen Pietisten gearbeitet, also strenggläubigen reformierten Christen. Man würde denken, dass sie Impfungen mit dem Argument ablehnen würden, man solle Gott nicht in seinen Heilsplan pfuschen. Das habe ich so nicht gefunden. Sie sagten: Wirkt nicht und ist gefährlich.

Die Begründungen verschieben sich auch. Manchmal ist die Ablehnung eher politisch motiviert, gegen einen Staatszugriff. Dann wieder richtet sie sich eher gegen eine technisierte Medizin. Solche Einwände galten dann den Befürwortern als rückwärtsgewandt. Gerade die Naturheilkunde war aber ein städtisch-bürgerliches Phänomen und hat sich selber als ausgesprochen fortschrittlich verstanden. Die Argumentation ist damals wie heute vielschichtig und teils widersprüchlich. Wenn dann keine offene, kritische Diskussion möglich ist, führt das zu Spannungen. Das sieht man auch heute bei den Corona Massnahmen Gegnern. Die Fronten sind sehr verhärtet.

Waren es vielleicht eher kulturelle Gründe, dass die Landbevölkerung anders mit Krankheiten oder dem Tod umging?

Iris Ritzmann: Ich kann mir gut vorstellen, dass es in ländlichen Gegenden auch einen Zusammenhang mit der Distanz zu den in den Städten an den Universitäten ausgebildeten Ärzten gab. Im 19. Jahrhundert durften die Laienheiler in den Dörfern zunehmend nicht mehr praktizieren. Es gab aber einen Mangel an akademisch ausgebildeten Landärzten. Dazu fehlen aber häufig die Quellen.

Eine Studie, die ich kenne, wertet Gerichtsakten aus einem ländlichen Raum aus dem 19. Jahrhundert aus. Es fällt auf, dass der Widerstand häufig von Frauen kommt, von Müttern. Selbst bei Männern, die verurteilt werden, argumentieren diese typischerweise, sie hätten sich in dieser Sache nicht gegen ihre Frauen stellen wollen! Die Mütter argumentierten meist mit sehr konkreten Vorbehalten. Sie berichten zum Beispiel über Impfschäden, die in anderen Familien aufgetreten seien. Sie sagen, sie könnten die Verantwortung für einen solchen Eingriff gegenüber ihren Kindern nicht tragen.

Zum Schluss möchte ich über ein Bild aus einer impfkritischen Publikation sprechen. Man sieht zwei kämpferische Männer, die das Schweizerkreuz gegen Schlangen verteidigen. Was sagt ihr zu einer solchen Kombination von Impfgegnerschaft und Nationalismus?

Eberhard Wolff: Man muss das Bild im historischen Kontext sehen. Künstlerisch gesehen ist die Darstellung typisch für die Zeit. Man muss sich fragen, welchen Effekt wollten die Macher der Zeitschrift mit so einer Ikonographie erreichen? Der martialische Unterton sorgt für eine gewisse Dramatisierung, was für ein solches Signet einer Zeitschrift sicher erwünscht war.

„Impfzwanggegner“ Organ der Vereinigung schweizerischer Impfzwanggegner. Zürich, 1924. Schweizerisches Sozialarchiv Zürich.

Iris Ritzmann: Die Impfung wird als Gift dargestellt. Der Kampf gilt also dem Impfzwang, der das Schweizer Volk mit Gift bedroht. Die Männer verteidigen die Schweiz also gegen die Giftschlangen, die als Allegorie für die Zwangsimpfung und die damit befürchtete Vergiftung der Bevölkerung steht. Im Text unterhalb wird die freie Entscheidung über den eigenen Körper zu verfügen eingefordert. Diese historische Argumentation ist durchaus mit der heutigen Diskussion gegen ein Impfobligatorium vergleichbar.

Eberhard Wolff: Den Fokus auf das Schweizerkreuz in der Mitte könnte man heute so interpretieren, dass diese Leute ausgrenzend nationalistisch waren. Von den Zeitgenossen wurde das aber vermutlich anders empfunden. Vielleicht wollten die Impfgegner darstellen, dass sie brave Bürger sind, die Werte der Schweiz verteidigen? Die Bewegung der Impfgegnerschaft war zwar teils konservativ, aber nicht nur. Es gab und gibt auch eine linke Impfgegnerschaft.

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