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Vor 100 Jahren wurde der Impfstoff im Kuhstall produziert

17. Mai 2021 | Andreas Bigger | Keine Kommentare |

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Der Export von Impfstoffen aus der Schweiz hat eine lange Tradition. Zu einem letzten Höhepunkt vor der Coronapandemie kam es 2001, als aus Angst vor Bioterrorangriffen plötzlich der Pockenimpfstoff Lancy Vaxina wieder gefragt war.

Nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 konnte sich die traditionsreiche Schweizer Firma Berna Biotech über mangelnde Nachfrage nicht beklagen. Diverse europäische Länder kauften grosse Chargen des Pockenimpfstoffes Lancy Vaxina, um im Notfall die Bevölkerung schützen zu können. Auch die Schweizer Regierung kaufte 3 Millionen Dosen Trockenimpfstoff. Glücklicherweise konnte Berna Biotech auf eingelagerten Impfstoff zurückgreifen. Seit die Pocken 1980 von der WHO offiziell als ausgerottet erklärt wurden, hatte die Nachfrage zuvor stark abgenommen.

Pockenimpfstoff Lancy Vaxina für 2-3 Impfungen. Flüssiger Impfstoff im Glasröhrchen, verpackt in Metallhülsen mit Impflanzette. Um 1900. Medizinische Sammlung der Universität Zürich.
Einzeldosis Trockenimpfstoff Lancy-Vaxina für den britschen Markt, 1980. Wellcome Collection, London.

Schweizerisches Serum- und Impfinstitut in Bern
Der Impfstoff Lancy Vaxina hat eine erstaunlich lange Geschichte. Bereits 1883 gründete der Unternehmer Charles Haccius in Lancy bei Genf das erste Schweizer Unternehmen zur industriellen Herstellung von Pockenimpfstoff, das Institut Vaccinal Suisse. Das Institut stellte «animale Lymphe» her. Das heisst, der Pockenimpfstoff wurde nicht – wie vorher üblich – aus der Impfpustel eines geimpften Kindes gewonnen, sondern auf der Haut von Rindern und Kälbern produziert.

Bereits kurz nach der Gründung war die Firma auch international tätig. Bereits 1883 wurde der Impfstoff in Lesotho eingesetzt, dem damaligen Basutoland. 1898 fusionierte das Institut Vaccinal Suisse mit dem der Berner Firma Häfliger, Vogt & Co, die Diphterieimpfstoffe herstellte. Gemeinsam gründeten sie das Schweizerische Serum- und Impfinstitut. Für die Impfstoffproduktion mietete sich die Firma in einem Anbau an das Institut für Hygiene und Bakteriologie der Universität Bern ein. Das Institut Vaccinal Suisse exportierte im Jahr 1910 nach Italien, Russland, Deutschland, in die USA und in den belgischen Kongo. Während in Europa flüssiger Impfstoff bevorzugt wurde, wurde in den Tropen aus klimatischen Gründen Trockenimpfstoff eingesetzt.

Institut Vaccinal Suisse in Lancy bei Genf, um 1885. Aus: Schweiz. Serum- und Impfinstitut Bern, Geschäftsbericht 1972.

Impfstoffgewinnung durch Kuh-Strichimpfung
Für die Gewinnung des Pockenimpfstoffes kaufte das Schweizerische Serum- und Impfinstitut laufend junge Rinder an, die in eigenen Ställen auf dem Gelände untergebracht wurden. Für die Impfung wurde der Bauch der Kälber von Haaren befreit, gesäubert und desinfiziert. Die Tiere wurden auf einem Impftisch seitlich liegend fixiert, so dass das Impffeld gut zugänglich war. Nun wurde die Haut mit einer Lanzette in regelmässigem Abstand strichförmig eingeschnitten und der Impfstoff angebracht. Die Impfstelle wurde abgedeckt und das Tier zur Überwachung in den Stall gebracht.

Nach 5-6 Tagen waren die Impfpusteln voll entwickelt und mit einem gelblichen, klebrigen Serum gefüllt. Der Pustelinhalt wurde mit einem Löffel ausgekratzt und mit Glyzerin gemischt. Diese Mischung wurde in den Laboratorien des Instituts zu einer Emulsion verrieben und in sterile Glasröhrchen abgefüllt wurde. Bevor der Impfstoff freigegen wurde, wurde er bakteriologisch untersucht und im Tierversuch an Kaninchen und Meerschweinchen getestet. Die Kälber wurden geschlachtet und ebenfalls auf Krankheiten wie Rindertuberkulose untersucht.

Vaccinepusteln bei der Kuh-Strichimpfung. Moulagenmuseum der Universität Zürich und des Universitätsspitals Zürich.
Vaccinepusteln beim Kaninchen (Tierversuch), 1911. Moulagenmuseum der Universität Zürich und des Universitätsspitals Zürich.

Bei der letzten Schweizer Pockenepidemie von 1921-1926 wurde der Impfstoff Lancy Vaxina grossflächig eingesetzt. Der Bundesrat erliess 1923 ein Impfobligatorium für betroffene Ortschaften und Bevölkerungsgruppen. Wer noch nicht geimpft war, erhielt eine Notfallimpfung. Zum Einsatz kam noch ein weiterer, in der Schweiz produzierter Impfstoff. In Lausanne gründeten Emil Felix und Jules Flück 1898 das Institut Vacciogène Suisse, das ebenfalls jahrzehntelang animale Lymphe produzierte. Im Gegensatz zu Deutschland, wo staatliche Institute die Versorgung mit Impfstoff sicherstellten, wurde die Produktion in der Schweiz von Privatfirmen getragen.

Kleine Impfanleitung von Emil Felix und Jules Flück. Lausanne, 1903. Hauptbibliothek – Medizin Careum.

In späteren Jahren traten die Pocken in der Schweiz nur noch vereinzelt auf. Die letzte Erkrankung wurde 1963 gemeldet. Die Impfungen wurden in den 1970er Jahren eingestellt. Die vom Bund 2001 gekauften Lancy Vaxina Impfdosen stehen auch heute noch für den Notfall bereit. Die Firma Berna Biotech gibt es jedoch nicht mehr. Sie wurde 2006 verkauft und ist heute Teil des amerikanischen Pharmakonzerns Johnson & Johnson.

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