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Pockenimpfung – nur ein kleiner Schnitt in die Haut

31. Mai 2021 | Andreas Bigger | Keine Kommentare |

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Die Pockenimpfung ist die älteste bekannte Impfung. Bereits 1796 führte Edward Jenner die Vakzination mit Kuhpocken ein, die sich rasch in ganz Europa verbreitete. In der Medizinischen Sammlung der Universität Zürich kann die Geschichte der Impfung anhand von Instrumenten nachvollzogen werden. In Kisten verpackt lagern zahlreiche Impflanzetten und -nadeln. Dr. Martin Trachsel, wissenschaftlicher Mitarbeiter, führt uns anhand der Objekte durch die materielle Geschichte der Impftechnik.

Interview: Ursula Reis

Welches ist das älteste Impfinstrument der Sammlung und was weisst du über seinen Gebrauch?

Martin Trachsel: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Bevor spezielle Impfinstrumente eingesetzt wurden, benutze man Lanzetten. Das sind kleine, oft einklappbare Messer für den Aderlass. Die Spitze ist typischerweise zweischneidig, wie eine kleine Lanze. Wir haben bei uns in der Sammlung viele Aderlasslanzetten. Erst durch näheres Hinsehen kam ich zur Vermutung, dass einige davon wahrscheinlich zum Impfen hergestellt wurden.

Es gab viele verschiedene Impftechniken. Grundsätzlich ging es aber darum, einen oder mehrere feine Schnitte in die Haut zu machen. Auf diese Schnitte wurde der Impfstoff appliziert. Einige Lanzetten haben eine Rille oder Vertiefung, was sie vermutlich als Impfinstrument auszeichnet, da so das Anbringen des Impfstoffs erleichtern werden sollte.

Impflanzette mit Schildplattgriff, 19. Jahrhundert. Medizinische Sammlung, Universität Zürich.

Ein weiterer Hinweis, dass ein Instrument zum Impfen gebraucht wurde, ist das Vorhandensein einer Abdeckung für die Klinge. Die Gewinnung des Impfstoffes blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Schwierigkeit für die Ärzte. Es musste dafür ein sogenannter Abimpfling zur Verfügung stehen, ein Kind, dass etwa eine Woche vorher geimpft worden war und eine reife Impfpustel aufwies. Die aus dieser Pustel entnommene wässrige Flüssigkeit, Lymphe genannt, diente als Impfstoff. Es wurde entweder von Arm zu Arm geimpft, also mit beiden Kindern anwesend, oder der Impfstoff wurde getrocknet.

Hatte das Impfinstrument eine Schutzkappe oder Hülse, konnte die Lymphe direkt auf der Lanzette getrocknet und später verwendet werden. Wir haben in der Sammlung sogar ein Etui, das mit vier Lanzetten mit aufschraubbaren Deckeln gefüllt ist. Vermutlich wurden es benutzt, um einen kleinen Vorrat an Impfstoff halten zu können.

Impflanzette mit Griff aus Gummi und Glasbehälter, ca. 1870. Die Lanzette konnte mit dem Glasbehälter verschraubt werden, der gleichzeitig als Transportgefäss für Glasröhrchen mit konservierte Lymphe diente. Medizinische Sammlung, Universität Zürich.

Wie hat sich die Impfung verändert, was waren wichtige Entwicklungen?

Martin Trachsel: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte man, dass die Lymphe länger haltbar wurde, wenn man sie mit Glyzerinlösung mischte. Der so präparierte Impfstoff liess sich in Glasröhrchen oder Flacons aufbewahren. Durch die längere Haltbarkeit konnten die Vakzine in grösseren Mengen gelagert und verfügbar gehalten werden. Es wurde möglich, ganze Truppen zu impfen, was im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 erstmal im grösseren Stil umgesetzt wurde.

Als Impfinstrument dienten immer noch Impflanzetten in verschiedenen Varianten, häufig mit Griffen aus Schildplatt, Horn oder Elfenbein. Teils wurden die Instrumente auch als Nadeln bezeichnet, die Übergänge sind aber fliessend. Einige Impflanzetten hatten abnehmbare Spitzen. Mehrere Exemplare in unserer Sammlung weisen verglühte Spitzen auf. Wir gehen davon aus, dass sie im Feuer sterilisiert wurden.

Impfsets Lancy-Vaxina des Schweizerischen Serum- und Impfinstituts, um 1900. Medizinische Sammlung, Universität Zürich.

Ein weiterer wichtiger Treiber der technischen Entwicklung waren Sicherheitsbedenken. Immer wieder gab es Berichte, dass beim Impfen mit der humanen Vakzine Krankheiten übertragen wurde, vor allem Syphilis. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die industriell produzierte animale Lymphe durch, die unter kontrollierten Bedingungen auf Rinderhaut vermehrt und bakteriologisch überprüft wurde. Als sich die Asepsis definitiv durchsetzte, wurden die vorher üblichen Lanzetten durch neue Modelle ersetzt, die entweder in grosser Zahl sterilisiert werden konnten oder zur Einmalverwendung gedacht waren.

Das Schweizerische Serum- und Impfinstitut vertrieb ihren Impfstoff Lancy-Vaxina ab der Jahrhundertwende mit mitgelieferter steriler Impflanzette. Ein Messingröhrchen enthielt je ein auf beiden Seiten zugeschmolzenes Glasröhrchen mit glyzerinisierter Lymphe für 2-3 Anwendungen und eine Lanzette mit abnehmbarer Spitze.

Was weiss man über die Herkunft der Instrumente in der Sammlung?

Martin Trachsel: Leider wissen wir teilweise wenig. Der Kern der Medizinischen Sammlung besteht seit der Zwischenkriegszeit und wurde mehrmals umsortiert. Systematisch inventarisiert wird erst seit 1978. Relativ gut dokumentiert sind die Instrumente, die aus der chirurgischen Klinik des ehemaligen Kantonsspitals übernommen wurde. Bei den Beständen aus Ärztenachlässen ist die Situation unterschiedlich.

Einige unserer Impfinstrumente dürften aus dem Nachlass eines Thurgauer Arztes stammen. Er praktizierte allerdings in den 1930er Jahren und viele Instrumente stammen aus dem 19. Jahrhundert. Es bleibt unklar, wie sie in seinen Besitz kamen. Manchmal hilft uns ein Stempel auf dem Instrument, den Hersteller zu bestimmen, oder wir finden eine Abbildung in unserer Sammlung historischer Instrumentenkataloge. Gelegentlich werden wir in der zeitgenössischeren Fachliteratur fündig. Allzu oft bleibt die Recherche aber ohne eindeutiges Resultat und wir sind auf Vergleiche und Vermutungen angewiesen.

Technik des Impfens, 1911
«Die Technik ist äusserst einfach, verlangt aber die gleiche peinliche Asepsis wie jede Operation. Am Tag zuvor soll das Kind reingebadet werden; vor dem Impfen wird die betreffende Stelle mit Watte und Äther abgewaschen. Gewöhnlich macht man an der Aussenseite des rechten Oberarmes bei entkleidetem Oberkörper mit einer Impflanzette, auf welche man vorher aus der Kapillare ein wenig Vakzine hat ausfliessen lassen, vier seichte ca. 1 cm lange Schnitte, je zwei und zwei übereinander; die Distanz der Kerbungen soll 3 cm betragen. Der Schnitt ist so leicht zu führen, dass eben nur eine rote Ritzung sichtbar wird, jede Blutung ist zu vermeiden. Einreiben des Impfstoffes ist nicht notwendig. Am besten lässt man nun den Impfstoff 10 min lang eintrocknen.»
Quelle: Emil Feer, Lehrbuch der Kinderheilkunde, 1911, S. 554.

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