Social Psychology @ UZH

Social Behavior in a Digital Society

Lifelogging – Aufzeichnen zur Selbstzerstörung

1. March 2017 | Johannes Ullrich | Keine Kommentare |

Von Norman Hoffmann

9912 gezählte Schritte, 2571 verbrannte Kalorien, 5 Stunden 50 Minuten erholsamer Schlaf, 2h 58 Minuten im Stehen verbrachte Zeit, 56 Minuten mit Gehen verbrachte Zeit und 13h 18 Minuten im Sitzen verbrachte Zeit. Die Aufzeichnung meines Activity-Tracker-Armbandes vom Mittwoch 17. April 2016 führt mir schonungslos vor Augen, dass ich an einem gewöhnlichen Uni- respektive Arbeitstag mehr als die Hälfte eines Tages sitzend verbringe. Da ich jeweils eine Stunde von St. Gallen nach Zürich und zurück pendle und meinen Nebenjob in Form einer Bürotätigkeit verrichte, habe ich bereits bei Beginn meiner 14-tägigen Aufzeichnungsphase damit gerechnet, dass ich die personalisierten Aktivitätsziele zur Gesundheitsverbesserung nicht erreichen werde. Dennoch haben mich die aufgezeichneten Messresultate überrascht. Die digitalisierten Aufzeichnungen haben gegenüber retrospektiven Abfragen, welche auf Erinnerungen basieren, nämlich einen entscheidenden Vorteil: Sie erheben physische und biologische Parameter frei von jeglichen Verfälschungen und potentiellen Verzerrungen wie beispielsweise der sozialen Erwünschtheit eines Verhaltens. Die Diskrepanz zwischen quantitativen Daten und der subjektiven Einschätzung kann so mitunter überraschend hoch ausfallen. Doch was nützen uns solche Erkenntnisse? Können Sie uns motivieren und unser Verhalten zum Positiven verändern oder führen sie unter Umständen zu Resignation und Demotivation? Verlieren wir einen Teil unserer Selbstbestimmung, wenn technische Geräte versuchen, unser Verhalten zu beeinflussen?

Wenn mir nach einstündigem Sitzen in einem Seminar ein kleines Lämpchen an meinem Armband anzeigte, dass es an der Zeit wäre, wieder einmal aufzustehen, löste dies in mir eher negative Emotionen aus: Einerseits verunmöglichte mir der soziale Kontext, in dem ich mich befand, dem Ratschlag zu folgen, da dies wohl eher verwunderte Blicke meiner Kommilitonen auf mich gezogen hätte. Andererseits kamen unweigerlich auch Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen in mir hoch. Manchmal löste die aufblickende Anzeige auch Anzeichen von Ärger und Frustration aus.

Der oben erwähnte Activity-Tracker in Form eines Armbandes stellt nur eine technische Möglichkeit zur Selbstvermessung dar. Nebst Schrittzählern, Uhren, kleinen Kameras, CO2-Sensoren, GPS-Sensoren und Mikrofonen kommen mit zunehmendem technischem Fortschritt ständig neue und auch erschwinglichere Gadgets auf den Markt. Ihre Nutzer verfolgen mit den Geräten das Ziel, ihren gesamten Lebensalltag oder zumindest Teile davon aufzuzeichnen und digital zu archivieren. Gespeichert werden sämtliche Konversationen, Handlungen und Erfahrungen aus dem eigenen Alltag, um die Informationen zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen zu können. Dieses Verhalten wird in einschlägigen Communitys und auch in der Wissenschaft unter dem Begriff „Lifelogging“ subsumiert. Als bekannter Protagonist in diesem Gebiet gilt unter anderen Gordon Bell, ein US-amerikanischer Computeringenieur, der in Zusammenarbeit mit Microsoft Research das Projekt MyLifeBits ins Leben gerufen hat. Dieses dient zum einen dem Ziel der Softwareentwicklung, und zum anderen führt Gorden Bell als Teil des Projektes ein langjähriges Experiment durch, in welchem er sein vollständiges Leben protokolliert und digital archiviert. Nebst Briefen, Artikeln, Fotos, E-Mails, Büchern, Präsentationen und Dokumenten speichert er auch Sprachaufzeichnungen von jeglichen Telefonaten und trägt eine kleine Kamera um den Hals, die alle 60 Sekunden ein Bild der Umgebung knipst. Gordon Bell führt so ein komplett papierloses Leben und verkörpert das Sinnbild der „totalen Erinnerung“. Die Bedürfnisse und Motivationen hinter dem Phänomen Lifelogging fallen individuell sehr unterschiedlich aus. Personen wie Gordon Bell nutzen Lifelogging als Erinnerungshilfe und Biografiegenerator. Die umfassende Lebensprotokollierung ermöglicht es ihnen, die begrenzten biologischen Kapazitäten und Fehleranfälligkeiten des menschlichen Gedächtnisses zu kompensieren und jederzeit auf die perfekte Erinnerung zurückzugreifen. Damit wird bis zu einem gewissen Grad auch ein menschliches Bedürfnis zur Überwindung der Vergänglichkeit abgedeckt:

„Lifelogging feeds the inner King Tut – the side uf us that rejects transience through mummification, relic, and entombment.“ (Allen, 2008, S. 52)

Andere Personengruppen wiederum setzen Lifelogging ein, um Körper- und Gesundheitsmonitoring zu betreiben. Im Vordergrund stehen dabei die Überwachung und Optimierung der eigenen Vitalfunktionen. In diesen Nutzertyp fällt beispielsweise die Verwendung eines zu Beginn beschriebenen Activity-Tracker-Armbandes. Während die einen beabsichtigen, ihr Gedächtnis zu erweitern, geht es anderen darum, ihren Lebensstil zu optimieren. Zweifelsohne können umfassende Lifelogs eine Reihe von Vorteilen mit sich bringen. Auf individueller Ebene ermöglichen sie ein hohes Mass an Introspektion und Selbsterkenntnis, was beispielsweise auch im therapeutischen Setting eingesetzt werden kann. Auf gesellschaftlicher Ebene erhoffen sich Verfechter des Lifeloggings unter anderem Vorteile für die Gesundheit oder die Strafverfolgung. Dem gegenüber stehen Kritiker, welche auf potentielle Gefahren hinweisen. Stein des Anstosses sind vor allem rechtliche Bedenken bezüglich dem Schutz der Privatsphäre und von Persönlichkeitsrechten.

Doch auch aus psychologischer Perspektive kann dem Phänomen kritisch begegnet werden. Dies führt uns auch zu der eingangs gestellten Frage zurück, ob Lifelogs unter Umständen auch Resignation bewirken können. Ein erster Ansatzpunkt, der im Hinblick auf die motivationsförderliche Wirkung aus psychologischer Sicht Skepsis auslöst, leitet sich aus der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1985) ab. Die Theorie geht davon aus, dass ein Verhalten dann intrinsisch motiviert ausgeführt wird, wenn es selbstbestimmt und autonom, also nicht von aussen kontrolliert ist. Dem selbstbestimmten Verhalten sollte zudem auch ein Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit zugrunde liegen. Im Falle des Armbandes kann die Autonomie aber in Frage gestellt werden, da hier vor allem externe Kontroll- und Feedbackmechanismen zu einer Verhaltensänderung führen sollen. Dies würde gemäss der Selbstbestimmungstheorie zu einem Verlust von intrinsischer Motivation führen.

Diesen Motivationsverlust habe ich auch während meines Selbstversuches erlebt. Während ich am ersten Tag noch absichtlich die Treppe statt den Lift benutzte, um einen guten Tageswert in den zurückgelegten Schritten zu erreichen, legte sich die anfängliche Begeisterung und Neugier ziemlich schnell und wich einer zunehmenden Gleichgültigkeit.

Die Selbstoptimierung durch Lifelogging scheint demnach nicht in jedem Fall zu funktionieren und kann unter Umständen auch ins Gegenteil kippen. Nebst dem potentiellen Motivationsverlust löst insbesondere auch der Aspekt des „Rechts auf Vergessen“ aus psychologischer Sicht Bedenken aus. Die technischen Hilfsmittel ermöglichen es den Lifelogging-Nutzern, ausgewählte Sequenzen aus ihrem Leben unbegrenzt oft und in ihrer vollen Detailtreue zu rekapitulieren. Für Demenzerkrankte beispielsweise könnte dies eine sehr vielversprechende Anwendungsmöglichkeit sein. Im Hinblick auf persönliche Misserfolge, peinliche Fehltritte oder traumatische Erlebnisse im Leben von Personen kann das ständige Wiedererleben jedoch auch schädigend auf die Psyche wirken. Die gespeicherten Lifelogs können unter Umständen das Vergessen oder Verdrängen von erlebten Episoden unterminieren. Obwohl in der psychologischen Literatur kein einheitliches Konzept des Verdrängungsbegriffes existiert, beschreiben Vertreter unterschiedlicher Schulen die Verdrängung als natürliche Reaktion des Menschen, die in bestimmten Situationen auch als adaptive und nützliche Strategie angesehen wird. Durch die dauerhafte Archivierung und die permanente Verfügbarkeit schalten Lifelogs diesen natürlichen Mechanismus des menschlichen Gehirnes aus.

Sollte sich Lifelogging von einem Nischenphänomen zu einem verbreiteten und gesellschaftsfähigen Verhalten entwickeln, täten Wissenschaftler gut daran, nebst den rechtlichen Bedenken auch psychologische Folgen nicht ausser Acht zu lassen.

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