Social Psychology @ UZH

Social Behavior in a Digital Society

Facebook-Live macht uns alle zu (Mit-)Tätern – Wie wir auf Kosten eines Marketingtrends zum Bystander werden.

29. June 2017 | Johannes Ullrich | Keine Kommentare |

Von Lea Mozzini

Facebook-Live gibt es seit etwas mehr als einem Jahr. Wir als NutzerInnen brauchen die Funktion laut Zuckerberg, um unsere Follower und Freunde stärker in Konversationen einzubinden, um neue ZuhörerInnen und ZuschauerInnen zu gewinnen, um uns sofort live mit anderen zu verbinden und um die eigene Geschichte personalisiert erzählen zu können. Für mich klingt das nach einem neuen Gadget: nicht wirklich notwendig und höchstens ein nice-to-have für den fleissigen Facebook-Nutzer. Facebook selber braucht die Funktion aus einem ganz anderen Grund: Marketing. Die Videos sind eine neue Möglichkeit, dem Trend entgegenzuwirken, dass Facebook-Mitglieder weniger Dinge aus ihrem persönlichen Leben auf der Seite veröffentlichen.

Die Schattenseite: auf Facebook-Live werden immer mehr Gräueltaten gestreamt und niemand greift ein. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Live-Vergewaltigung eines 15-jährigen Mädchens in Chicago durch mehrere junge Männer. Dabei haben rund 40 Facebook-User zugeschaut und keiner davon meldete die Tat. Diese 40 Zuschauer wurden durch den Live-Stream und ihre Untätigkeit zu Mittätern. Warum kann so etwas passieren und warum lassen wir uns das gefallen? In diesem Blog gehe ich der Frage nach, wie die sozialpsychologische Forschung zum Bystander-Effekt durch Facebook-Live plötzlich wieder höchst relevant geworden ist.

Facebook-Live ermöglicht es NutzerInnen, Echtzeit-Videos mit Followern und Freunden zu teilen. Die Videos können bis zu vier Stunden lang sein und erscheinen im News-Feed, sowie auf der Profilseite des Erstellers/der Erstellerin. Nachdem das Video zu Ende ist, wird es auf Facebook veröffentlicht, so dass es auch später noch angeschaut werden kann. Das Live-Video wird dadurch zu einem Post wie jeder andere auch. Zusätzlich gibt es eine interaktive Live-Karte, welche laufend ausgebaut und optimiert wird. Darauf sind alle öffentlichen Live-Streams aus der ganzen Welt zu sehen. Damit man sein Video auf der Karte veröffentlichen kann, muss auch der eigene Standort angegeben werden. Dafür kann das Video weltweit einfach gefunden, angeklickt und geschaut werden. Ebenfalls ersichtlich ist, welche Videos besonders viele Zuschauer und Kommentare haben.

Die Videos können – wie auch normale Posts – gemeldet werden, worauf sie von einem Team durchgesehen und allenfalls mit einer Warnung bezüglich des Inhalts versehen oder gelöscht werden.

Ein Polizist erschiesst den Vater einer 4-jährigen Tochter, seine Frau und die Tochter sitzen mit ihm im Auto. Ein Mann ermordet in Cleveland wahllos jemanden. Ein dschihadistischer Aktivist erschiesst einen Polizisten vor dessen Haus, ersticht seine Frau, den kleinen Sohn lässt er am Leben. Ein Mann wird durch mehrere Schüsse getötet. Ein Vater erhängt sein Baby und nimmt sich anschliessend selber das Leben.

Was diese Taten gemeinsam haben ist, dass alle live auf Facebook gestreamt wurden. In den meisten Fällen schauten viele zu, doch niemand meldete etwas. Die Taten bleiben meist mehrere Stunden online, bevor Facebook sie findet und löscht. Doch dann ist es bereits zu spät, denn das Internet vergisst nicht: das Video des Mannes, welcher bei seinem eigenen Livestream getötet wurde, war mehrere Tage lang abrufbar und lediglich mit einer Warnung versehen. Mittlerweilen ist es auf Youtube zu finden. Das Video des von einem Polizisten erschossenen Mannes ist nach wie vor auf Facebook zu finden und das Video der Live-Ermordung in Cleveland war rund zwei Stunden online.

Kann uns Facebook dem Marketing zuliebe so leicht zur Mittat bewegen? Bis jetzt scheint genau dies der Fall zu sein.

Dadurch, dass NutzerInnen Gewaltvideos schauen, ohne diese zu melden, werden sie – freiwillig oder unfreiwillig – zu Mittätern. Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum wir uns das gefallen lassen, ist der Bystander-Effekt: die Wahrscheinlichkeit, Personen in einer Notsituation zu helfen, nimmt ab, je mehr Personen anwesend sind. Bei Facebook-Live haben wir es mit einem Online Bystander-Effekt zu tun, die Anzahl Zuschauer ist also um einiges grösser als bei einem Offline-Ereignis und die Wahrscheinlichkeit, dass einer davon hilft, dementsprechend kleiner. Laut Latané und Darley (1970) müssen nacheinander fünf Voraussetzungen erfüllt sein, damit Menschen in Notsituationen helfend eingreifen. Sie müssen

  1. das Ereignis bemerken
  2. es als Notfall interpretieren
  3. sich verantwortlich fühlen
  4. helfen können
  5. sich entscheiden, zu intervenieren.

Die Anonymität scheint dabei der Schlüsselfaktor von Online-Bystandern zu sein, denn sie begünstigt das Gefühl, keine persönliche Verantwortung zu tragen und hemmt dadurch das Einschreiten. Kennzeichnend dafür sind der Verlust an Selbstkontrolle und die Abwesenheit von Einschränkungen, welche in direkten Face-to-Face Interaktionen typisch wären. Durch die Anonymität verschwimmt zudem die Grenze zwischen Bystander und Täter und auch ein Zuschauer, der sich selber nicht als Täter wahrnimmt, kann einfach zu einem werden.

An einem fiktiven Beispiel von Facebook-Live veranschaulicht heisst dies: Peter, der eine Live-Vergewaltigung schaut, nimmt sich nicht als Täter wahr, denn er sitzt bei sich zuhause gemütlich auf dem Sofa und sieht sich nur ein Video an. Er ist nicht anwesend, sondern nur einer von vielen Facebook-Usern. Durch seine Untätigkeit und dadurch, dass er das Video schaut, lässt er jedoch nicht nur zu, dass die Tat fortschreitet, sondern vor allem auch, dass sie weiterhin online und für Facebook-NutzerInnen weltweit sichtbar gestreamt wird. Er lässt zu, dass das Opfer weiter öffentlich gedemütigt und verletzt werden kann und er unterstützt den Täter, indem er das Video schaut, was die Zuschauerzahl des Videos und somit dessen Popularität und die Wahrscheinlichkeit, dass andere User es auch schauen, erhöht. Ob Peter dies nun so wahrnimmt oder nicht: er wurde zum Mittäter.

In meinem Kopf tummeln sich die Fragen, eine davon möchte ich abschliessend nennen: Hat Facebook die negativen Implikationen der Live-Funktion tatsächlich nicht mitbedacht (was sehr naiv wäre), oder waren sie ihnen einfach egal (was sehr beunruhigend wäre)? Würde ersteres zutreffen, könnte Facebook als Reaktion auf die Gräueltaten die Live Funktion einfach wieder löschen. Gleichzeitig scheint die Funktion leider super fürs Marketing und das Geschäft zu sein. Warum also vor der Vision einer komplett in Echtzeit vernetzten Global Community zurückschrecken? Es gilt eine Kosten-Nutzen Abwägung zu machen: in diesem Fall geht der Entscheid gegen die Würde einzelner Individuen und ein humanes Moralverständnis.

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