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Literaturtipp: Die authentische Geschichte von Frieda Keller. Ein Justizskandal

18. Mai 2015 | Yvonne Müller Bürgi | 3 Kommentare |

minelli

Die Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli zeichnet in ihrem neusten Buch auf eindrückliche Weise einen Justizskandal von 1904 auf, der die Schweiz polarisierte und die Frauenbewegung auf den Plan rief.

Der Roman handelt von der Thurgauerin Frieda Keller (1879-1942), die nach einer Vergewaltigung durch ihren Arbeitgeber ein uneheliches Kind zur Welt bringt. Eine Tatsache, über die zu dieser Zeit lieber geschwiegen wurde, als dass man die junge Frau unterstützt hätte. Frieda Keller hätte damals auch gar nicht gegen ihren Vergewaltiger klagen können, denn im Privatrechtlichen Gesetzbuch für den Kanton Thurgau hiess es „eine Weibsperson, die sich mit einem Ehemann einlässt“ verdiene keine Gunst des Gesetzes, sondern müsse „die Folgen ihrer Unsittlichkeit selbst tragen“. So wird das Geschehene vertuscht und der Bub in einer Kinderbewahranstalt in St. Gallen versteckt. Als er dort nicht mehr länger bleiben kann und Frieda Keller keine Möglichkeit sieht, für sich und ihr Kind auzukommen, wird sie selber zur Täterin. Sie wird zum Tod verurteilt und nur unter dem Druck der Öffentlichkeit zu lebenslanger Zuchthausstrafe in Einzelhaft „begnadigt“. Als sie viele Jahre später endlich aus dem Gefängnis entlassen wird, ist sie eine gebrochene, verwirrte Frau.

Auf der Grundlage von Prozessmitschriften gelingt es Minelli auf ergreifende Art aufzuzeigen, wie das Justizsystem damals funktioniert hat und wie frauenfeindlich die Gesellschaft war. Der Fall Frieda Keller schlug sich massgeblich in der Schaffung des Schweizerischen Strafgesetzbuches nieder und gilt noch heute als Wegmarke zu neuem Recht.

Michèle Minelli: Die Verlorene
Aufbau Verlag Berlin, 440 Seiten

Das Buch ist gebunden oder als E-Book im Buchhandel erhältlich.

Abgelegt unter: Lesetipp


3 Kommentare vorhanden

  • 1 Ruedi Amrhein // Mai 21, 2015 at 21:51

    Ein ganz tolles Leseerlebnis und eine unglaublich tragische Lebensgeschichte.
    Endlich jemand, der dies klar und ungeschminkt erzählt.
    Ganz tolle Besprechung von Frau Müller.

  • 2 Corinne Hügli // Mai 22, 2015 at 17:01

    Dieses Buch ist ein absolutes Muss für alle Jus-Studierenden – und obendrein ein literarischer Leckerbissen!

  • 3 Ruth Loosli // Mai 23, 2015 at 08:33

    Das Wissen, dass diese Geschichte bei uns vor nur etwas mehr als 100 Jahren stattgefunden hat, ist bedrückend und erhellend zugleich.
    Danke der Autorin, dass sie den Mut hatte, diesem Stoff nachzugehen.
    MM hat das Buch Frieda Keller gewidmet, die ihre Sprache verloren hatte in den langen Jahren der Isolationshaft.

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