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Aufgetautes Denken

Selma Kay Matters Materialschlacht «Grelle Tage» schürt die Hoffnung auf eine neue Schweizer Dramatik.

Von Gianna Schläpfer
6. Mai 2024

Jo ist dreizehn und mach die Augen nicht mehr zu. Denn kaum sieht Jo weg, verschwinden die Landschaften. Eis und Wasser lösen sich auf, zurück bleiben schlammiger Boden und Kraterlandschaften. Doch während Bergspitzen und Seen verschwinden, tauen an anderen Orten Dinge wieder auf oder entstehen neu. Ganze Mammuts werden freigelegt, sogleich gejagt von Elfenbeinjäger*innen und Archäolog*innen mit dem Ziel, die neuen Funde zu konservieren, zu studieren oder sich daran zu bereichern. Und dann tauen mit einem tausende Jahre alten Wolfshund auch dessen Gedanken auf, ausgerechnet in der letzten Pfütze eines Brandenburger Teichs, welcher Jo während einer unbeabsichtigten Schlafpause davontrocknete.

Spiel gegen das Verschwinden

Grelle Tage ist Selma Kay Matters fünfter Theatertext. Matter, ein noch junger Name in der Zürcher Theaterszene und doch bereits ausgezeichnet mit dem Hans-Gratzer-Preis, spannt hier eine vielschichtige Dystopie auf. Es geht um das Verlieren von Substanz und Erinnerungen, um Deformationen und den persönlichen Kampf dagegen. Neben dem Klimadiskurs beschäftigt sich der Text mit der Frage, wie sich das Leben ändert in einer Zeit des Wandels, welchem neben Gedanken und Körpern auch ganze Naturphänomene unterworfen sind. In Grelle Tage wird man stehts daran erinnert, dass alles überall gleichzeitig passiert und nichts allein für sich steht. Während die Zeit den Protagonist*innen ständig von neuem zu entrinnen scheint, sind sie in der Lage, zwischen Orten und Epochen hin und her zu gehen.

Matters Charaktere sind nur rudimentär und oberflächlich skizziert, reihen sich mit ihren Zielen und Ängsten jedoch kraftvoll in die Thematik ein. Der zerfledderte Wolfshund, welcher durch einen Kanon an Gedanken spricht und in jeder Szene einige seiner zerfledderten Gliedmassen zu verlieren scheint, erinnert ununterbrochen an sein eigenes Auflösen. Zurück ins Eis lässt er sich aber auch nicht treiben, denn sein Auftauen hat bestimmt etwas zu bedeuten. Schliesslich begeben sich Wolfshund und Teenager*in zusammen auf eine Mission gegen das Verschwinden, um das Loch im zusammenfallenden Matterhorn mit Baumarkt-Kies aufzufüllen.

Zur Person

Selma Kay Matter, *1998, ist Zürcher Dramatiker*in . Dey studierte Szenisches Schreiben sowie Literatur, Theater und Philosophie. «Grelle Tage», Matters fünfter Theatertext, wurde 2022 ausgezeichnet mit dem Hans-Gratzer-Preis. Das Stück erlebte am 12. Januar 2023 am Schauspielhaus Wien die Uraufführung und ist 2023 auch als Buch erschienen.

Kein sicherer Stand, nirgends

Wie in jedem Drama ist dem Theatertext dessen Umsetzung miteingeschrieben und entfacht eine brennende Neugier auf dessen Aufführbarkeit. Matter trifft dazu klare Anforderungen, sei es an die Abfolge der Dialoge, die dazu verwendete Musik oder den bespielten Ort. Wer die Uraufführung im Januar 2023 in Wien verpasst hat, kommt nicht umhin sich zu fragen, wie «ein kaputtes Tröten, wie nur ein löchriger Mammutrüssel es ausstossen kann» wohl umgesetzt klingen mag oder wie ein Bühnenbild zwischen etlichen Stationen in Brandenburg und Jakutsk, der kältesten und langsam wegtauenden Grossstadt der Welt, hin und her wechselt. Doch nicht nur das, denn Matter spricht den Brettern, die die Welt bedeuten, den festen Bühnenboden ab. Niemand soll einen sicheren Stand haben, sondern sich stets durch weiche, nachgebende und aufbrechende Erde kämpfen, so verlangen es die Regieanweisungen.

Ein Stück, das die Lektüre sprengt

Als Lesestoff bietet das Theaterstück eine eigene Art von Erlebnis. Bewusst als Materialsammlung angeordnet wirkt es auf ein Stringenz gewohntes Lesepublikum erst überfordernd, die dargestellte Gleichzeitigkeit der Monologe aufzunehmen und sich deren Umsetzung vorzustellen. Kaum hat man es geschafft, sich eine Lesestrategie für die parallel ablaufenden Handlungsstränge zurechtzulegen, so setzt Matter einem QR-Codes zwischen die Zeilen, welche man für die an dieser Stelle verlangte Musik abrufen soll. Auch die Bildstrecke in der Buchmitte bietet nur wenig Aufschluss darüber, wie man sich die Geschichte szenisch vorstellen kann. Die Bildhaftigkeit der Sprache scheint wichtiger als das Gesagte selbst. Lautmalerische Ausrufe überziehen teils mehrere Doppelseiten. Die Sprache zerfliesst einem zwischen den Fingern wie das Gletschereis, zerfleddert wie der arme Wolfshund. Selbst fühlt man sich wie Teenager*in Jo: Sobald man wegschaut, verschwimmen die Wortfetzen noch mehr. Bildhaft wird einem vor Augen geführt, was es heisst, der Zersetzung bis zum Ende der Geschichte entgegenhalten zu wollen.

Der Text bringt als Lektüre definitiv gewisse Herausforderung mit sich, erfrischt dabei aber mit seiner unkonventionellen Aufmachung und stellenweise absurdem Humor. Wie auch Sarah Calörtscher kann Selma Kay Matter zu einem neuen Schlag aufsteigender Schweizer Dramatiker*innen gezählt werden, welche Text wie selbstverständlich mit Musik und Bewegung zusammendenken und über die herkömmlichen Medienkompositionen hinausgehen.

Selma Kay Matter: Grelle Tage. 118 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2023. ca. 26 CHF

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