29./30. Juni und 1. Juli 1968
Globuskrawall
A) Aufrufe, Vorbereitungen und Vorkehrungen
In der Radiosendung Rendez-vous am Mittag vom 27. Juni erklärt Stadtpräsident Widmer, dass der Stadtrat nach wie vor bereit ist, mit den Jugendlichen eine demokratische Lösung für die Jugendhausfrage zu finden. Nichtsdestotrotz werde die Stadtpolizei, so zitiert die NZZ aus der Sendung, mit Korrektheit, Ruhe und Festigkeit für Ordnung in der Innenstadt sorgen und am Wochenende das Globus-Provisorium mit einem Aufgebot vor einer illegalen Besetzung schützen.
Auf Flugblättern werden die Jugendlichen dazu aufgefordert, sich am 29. Juli vor dem Globus-Provisorium zu versammeln und Baumaterialien wie Hammer, Nägel und Bretter mitzubringen. Anstatt der ursprünglich geplanten Besetzung des Globus-Areals wolle man gemeinsam auf der Sechseläutenwiese ein "Altersheim für die Zürcher Jugend" errichten.
Beteiligte:
FSZ, Junge Sektion der PdA, "Aktionskomitee autonomes Jugendhaus", Stadtrat, u. a.
Quellen:
Neue Presse vom 28.6.68; NZZ vom 28.6.68.
B) Krawallnächte (29./30.6. und 1.7. 1968)
1. Krawallnacht: Heisse Nacht
Die vom "Aktionskomitee Autonomes Jungendhaus" zur Versammlung aufgeforderten Jugendlichen werden um 18.00 Uhr von Polizeikommandant Bertschi, welcher sich zusammen mit Stadtrat Sieber und Adjunkt Hubatka auf dem Balkon des "Du-Nord"-Hauses installiert hat, mehrmals dazu aufgefordert, den Platz vor dem Globus zu räumen. Nach den erfolglosen Aufforderungen werden Hydranten gegen die Demonstrierenden eingesetzt, worauf die Jugendlichen mit Steinen zurückwerfen. Die sich vergrössernde Menschenmasse bewegt sich durch den Limmatquai zum Bellevue, wo die Kundgebung auf dem Sechseläutenplatz stattfinden sollte. Auf dem Weg kommt es zu Zusammenstössen mit Passanten und Besuchern des Volksfestes der "Tessiner-Woche", der Verkehr wird lahm gelegt und die Polizei gerät zwischen zwei Fronten. Am Bellevue, auf der Bahnhofstrasse und dazwischen kommt es zu schweren Ausschreitungen zwischen über 300 Polizisten und ein paar hundert Demonstranten. Die Krawalle dauern bis in die frühen Morgenstunden und fordern schliesslich gut 40 Verletzte (davon fünfzehn Polizisten, sieben Feuerwehrleute und 19 Demonstranten). Rund 169 Personen werden verhaftet.
Während dem Krawall versammelt sich ein kleines Grüppchen von Jugendlichen vor dem von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellten Jugendhaus an der Hofwiesenstrasse und verurteilt das Verhalten ihrer Altersgenossen im Stadtzentrum.
In der Zeitung Vorwärts vom 18.7. ist nachzulesen, dass während der Ausschreitungen im Globus-Keller seitens der Polizei wild geschlagen worden sei, einige Demonstranten mehrmals und bis zur Bewusstlosigkeit. Andere Jugendliche seien ausgezogen worden und in die Geschlechtsteile geschlagen, was von Ärzten bezeugt sei. Dabei sei Dr. Walter Hubatka, Chef der Kriminalpolizei, bei diesen Schlägereien anwesend gewesen. Der Schaden belaufe sich auf ca. 80.000 CHF und nicht auf, wie zuvor behauptet, das Zehnfache. Stadtpräsident Widmer soll gar den Einsatz von Armee-Einheiten erwogen haben.
Beteiligte:
Junge Sektion der PdA, FSZ, "Aktionskomitee autonomes Jugendhaus", ca. 2000 Demonstranten, Polizei mit Kommandant Bertschi, Stadtrat Sieber, Adjunkt Hubatka, im Verlauf involviert: Besucher des Volksfestes der "Tessiner-Woche", Passanten, bekannte Namen: Marco Pinkus, Giorgio Frapolli (Ansager des Pop-Monsterkonzerts im Hallestadion), Rainer Gangl (Präsident der FSZ) , Fritz Hirtzel (ehemaliger "Volksrecht"- und "Zürcher Woche"-Journalist), Thomas Held, André Pinkus, Ester Schwarzer, Walter Ermel, Ruedi Bautz, Emilio Modena (Mitglied der PdA), Roland Gertler.
Quellen:
Blick vom 1.7.68; Der Bund vom 2.6.68; Häsler, Alfred A. (1976): Das Ende der Revolte. Aufbruch der Jugend 1968 und die Jahre danach. Zürich, S. 35f; Tages-Anzeiger vom 1.7.68; Die Tat vom 1.7.68, 2.7.68; Volksrecht vom 1.7.68; Zürcher Woche vom 5.7.68.
2. Krawallnacht: Der kleinere Krawall
Sonntagabend ziehen Demonstranten vom Globus-Provisorium zur Polizeihauptwache, wo eine Dreierdelegation des "Aktionskomitees autonomes Jugendzentrum" mit einer Petition die Freilassung der Verhafteten fordert. Als die Abgesandten nach einer halben Stunde noch nicht draussen erscheinen, lassen sich die Demonstranten zu einem Sitzstreik auf der Strasse nieder. Um 23 Uhr beginnt jemand mit ausgerissenen Pflanzen, Erde und Steinen die untätigen Polizisten zu bombardieren. Die Ordnungskräfte reagieren mit Wasserstrahlen. Wiederum kommt es zu einem – jedoch kleineren – Krawall, der bis in die Morgenstunden dauert.
Beteiligte:
Demonstranten (darunter Max Dätwyler), Mitglieder der "Aktion autonomes Jugendzentrum", Polizei, Schaulustige.
Quellen:
A-Z Basel vom 1.7.68; Basler Nachrichten vom 1.7.68; Zürcher Woche vom 5.7.68.
3. Krawallnacht: Ein friedliches Ende
Die Demonstranten versammeln sich am 1. Juli erneut vor dem Globus-Provisorium, beim Bahnhofplatz und auf der Bahnhofbrücke. An der Ecke Bahnhofquai/Bahnhofplatz fordert Polizeikommandant Bertschi die Protestierenden und Zuschauer um 21.10 Uhr auf, sich zu zerstreuen. Im Namen der FASS schlägt ein Jugendlicher den Demonstranten vor, sich um 22.00 Uhr zu einer Diskussion auf dem Lindenhof einzufinden. Ca. 300 Jugendliche folgen dem Vorschlag und versammeln sich dort, um konstruktiv über eine Lösung der Jugendhausfrage zu diskutieren. Die grosse Mehrheit bleibt aber in der Innenstadt zurück. Da die Polizei diesmal darauf bedacht ist, erst einzugreifen, wenn die Ausschreitungen bedrohlich werden, nimmt der Abend ein friedliches Ende.
Beteiligte:
Demonstranten, Polizei mit Kommandant Bertschi und Dr. Walter Hubatka, Chef der Kriminalpolizei.
Quellen:
NZZ vom 2.7.68 und 3.7.68; Tages-Anzeiger vom 2.7.68; Volksrecht vom 2.7.68.
C) Offizielle Stellungnahmen und Stimmen zum Globuskrawall
Übers Radio richtet Stadtpräsident Dr. Sigmund Widmer am Sonntagnachmittag um 12.50 Uhr das Wort an die Zürcher Bevölkerung. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni hätten Zuschauer, welche lediglich aus Neugier in die Innenstadt drängten, die Arbeit der Polizei erschwert. Er appelliert an alle Zürcher und Besucher der Stadt, Orte solcher Auseinandersetzungen zu meiden und drückt dabei seine Empörung über die Geschehnisse aus.
Während sich vorerst grosse Teile der Bevölkerung hinter den harten Polizeieinsatz stellen – manche bringen sogar Blumen und Geschenke auf die Polizeiwachen – kommen bald nach der "Heissen Nacht" Stimmen auf, dass die Polizei unverhältnismässig brutal und rücksichtslos auf die Demonstranten reagiert hätte. Die Gewaltanwendung der Polizei wird von einigen Seiten als ebenso verwerflich wie jene der Demonstranten betrachtet. Weiter wird auch das Verhalten von Polizeiinspektor Dr. Bertschi sowie die Abwesenheit von Stadtpräsident Widmer kritisiert. In einer Pressekonferenz vom 1. Juli bestreitet Bertschi nicht, dass Festgenommene nachträglich im Innern des Globus-Provisoriums oder in der Hauptwache Schläge bezogen haben. In der Rundschau vom 10. Juli wird ein Interview mit Dr. Fuchs und Dr. Bertschi ausgestrahlt, in dem beide Polizisten jedoch vorgeben, trotz Anwesenheit im Globuskeller nichts von den Gewalttaten der Kollegen mitbekommen zu haben. Dr. Fuchs erinnert sich lediglich daran, dass sich einige Jugendliche auch nach der Festnahme schlecht benommen hätten.
In den auf den Globuskrawall folgenden Tagen nehmen einzelne Parteien in Grossinseraten oder Zeitungsartikeln Stellung zu den Ereignissen. Die Freisinnigen fordern, dass man die Gespräche und Verhandlungen mit den gewalttätigen Jugendlichen abbricht, hart gegen die Verhafteten vorgeht, beteiligte Schüler und Studenten von den Lehrveranstaltungen verweist, sowie beteiligte Ausländer ausweist. Auch die BGB-Mittelstandspartei verlangt in Zukunft ein härteres Vorgehen gegen die verantwortungslose und verwahrloste Jugend. Ganz anders die Stellungnahme der Christsozialen, die weiterhin das Gespräch mit den Jugendlichen suchen und eine Abklärung der Haltung des Gemeinderatspräsidenten Alfred Messerli fordern. Die PdA macht vor allem die Polizei für die Verhärtung der Situation verantwortlich und zeigt Verständnis gegenüber den Protesten der Jugend. Man begrüsse das Interesse der jungen Generation an politischen Fragen. Die SP Zürich fordert eine Untersuchung der Ausschreitungen vom 31. Mai nach dem Monsterkonzert im Hallenstadion und hält die Jugendlichen gleichzeitig dazu an, einen demokratischen Weg einzuschlagen. Auch die SP möchte die Diskussion um ein Jugendhaus fortführen und bittet die Medien künftig um eine sachliche und neutrale Berichterstattung. Zürichs Jugend selbst distanziert sich von jeglicher Form der Gewaltanwendung.
Beteiligte:
Stadtpräsident Dr. Sigmund Widmer, Polizeiinspektor Dr. Bertschi, Dr. Fuchs (persönlicher Adjunkt des Polizeiinspektors, Leiter des Polizei-Zuges in der Krawallnacht), Zürichs Jugend, die Freisinnigen, die BGB-Mittelstandspartei, die Christsozialen, die PdA, die SP Zürich, Einwohner der Stadt Zürich.
Quellen:
Basler Nachrichten vom 2.7.68; Häsler, Alfred A. (1976): Das Ende der Revolte. Aufbruch der Jugend 1968 und die Jahre danach. Zürich, S. 38ff; NZZ vom 2.7.68, 3.7.68, 4.7.68, 5.7.68 und 6.7.68; Tagblatt der Stadt Zürich vom 3.7.68 und 6.7.68; Tages-Anzeiger vom 2.7.68 und 3.7.68; Die Tat vom 4.7.68; Vaterland vom 3.7.68; Volksrecht vom 2.7.68 und 6.7.68; Vorwärts vom 18.7.68; Züri Leu vom 18.7.68.
D) Verhaftungen, Untersuchungen, Prozesse
Bereits am 1. Juli sammelt das "Aktionskomitee autonomes Jugendhaus" Material für Strafklagen gegen die Polizei und beauftragt Zürcher Anwälte mit der Verteidigung der Interessen der Demonstranten.
Im Regierungsrat orientiert der zuständige Direktionsvorsteher am 4. Juli in einer Sitzung über die Lage nach den Unruhen des Wochenendes. Er gibt bekannt, dass die Staatsanwaltschaft sowie die Bezirksanwaltschaft zahlreiche Strafuntersuchungen eingeleitet haben. Der Regierungsrat werde zusammen mit den Behörden der Stadt Zürich alle Mittel einsetzen, um die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. So wird beispielsweise der Veranstalter des Jimi-Hendrix-Konzertes Hansruedi Jaggi wegen Verdachts auf Anstiftung zum Landfriedensbruch in seinem Haus in Rudolfstetten verhaftet und einvernommen, einige Stunden später jedoch wieder freigelassen.
Die Stadtgruppe Zürich des "Landesringes" erklärt am 5. Juli, dass die gemeinderätliche Untersuchungskommission in vier von fünf untersuchten Fällen Unkorrektheiten im Polizeiamt festgestellt habe, die ausschliesslich den leitenden Funktionären zur Last fallen. Dafür trage der freisinnige Polizeivorstand die volle Verantwortung. Man wolle diese Fehler nicht hochspielen, dürfe aber auch nicht davon ablenken. Die Untersuchungskommission sieht sich gezwungen, Massnahmen zur Behebung der Missstände im Polizeiamt vorzuschlagen und alles dafür zu tun, dass diese Forderungen umgesetzt werden.
Der Stadtrat erteilt am 6. Juli dem Präsidenten des Geschworenengerichtes Dr. Gut den Auftrag, die Strafanzeigen der Bezirksanwaltschaft gegen Polizisten. Für die Bearbeitung der Vorfälle im Globus-Provisorium und im Hallenstadion wird ein Untersuchungsgremium einberufen, dem neben Dr. Gut auch Vertreter der Bezirksanwaltschaft und der Polizei angehören. Der Regierungsrat versichert im Kantonsrat, dass die verhafteten Jugendlichen schnell abgeurteilt werden und stellt in Aussicht, Disziplinarmassnahmen gegen straffällige Schüler und Studenten durchzuführen sowie ausländische Randalierer auszuweisen.
Mitte Juli werden die letzten Verhafteten freigelassen, während die Untersuchungen weiterlaufen und nach wie vor Beteiligte vorgeladen werden. Diese Massnahmen werden von der SP Zürich, die unter anderem auch die Entlassung des Hilfslehrers Thomas Held kritisiert, verurteilt.
Weitere Details zu den Strafanzeigen erfährt die Öffentlichkeit am 14. August. Es kommt heraus, dass insgesamt 200 Strafanzeigen gegen Teilnehmer des Globuskrawalls eingegangen sind, während 28 Polizisten angezeigt worden sind. In der folgenden Woche wird bekannt, dass im Zusammenhang mit dem Globuskrawall bisher vier Ausweisungen von Ausländern ohne gerichtliche Untersuchung vollzogen worden sind. Am 11. Dezember findet im Gemeinderat eine siebenstündige Debatte über die "Zürcher Unruhen" statt. Diese von den Medien als "Monsterdebatte" bezeichnete Diskussion bringt jedoch nur wenig konkrete Ergebnisse hervor. Ende Dezember wird die Strafuntersuchung gegen Demonstranten abgeschlossen, die Untersuchungen gegen Polizisten laufen noch weiter.
Die Dokumentationsstelle der Arbeitsgruppe "Zürcher Manifest" ruft am 16. Juli zwecks Erstellung eines umfassenden und unabhängigen Berichtes über die Krawallnacht Zeugen auf – insbesondere Ärzte, Journalisten und Anwälte –, über die Ereignisse zu informieren und gegebenenfalls Personenbeschreibungen zu liefern.
Beteiligte:
"Aktionskomitee autonomes Jugendhaus", Zürcher Anwälte, Regierungsrat, zuständige Direktionsvorsteher, verhaftete Demonstranten, Stadtgruppe Zürich des "Landesringes", Zürcher Kantonspolizei, Gemeinderat, Hansruedi Jaggi, Thomas Held, Dr. Hans Gut (Stadtrat und Präsident des Geschworenengerichts), Gremium aus Vertretern der Bezirksanwaltschaft und der Polizei, Dokumentationsstelle der Arbeitsgruppe "Zürcher Manifest", u. a.
Quellen:
Basler Nachrichten vom 8.7.68; National-Zeitung vom 6.7.68 und 9.7.68; NZZ vom 5.7.68, 6.7.68, 8.7.68, 10.7.68, 14.8.1968, 21.8.68 und 13.12.68; Tagblatt der Stadt Zürich 16.7.68; Tages-Anzeiger vom 6.7.68, 9.7.68, 10.7.68, 14.8.68 und 30.12.68; Die Tat vom 8.7.68; Volksrecht vom 2.7.68, 6.7.68, 11.07.68 und 22.8.68; Vorwärts vom 18.7.68.