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Historisches Seminar

Nino Kuehnis

Anarchisten! / Anarchisten!: Von Erleuchteten und Vorläufern, von Läusen und Unkraut. Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung und Kollektive Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz 1885–1914.

Dank einer vergleichsweise weit gehenden Pressefreiheit, bot sich die Schweiz bereits seit den 1860er Jahren nicht nur als (temporäre) Heimat vieler führender anarchistischer Theoretiker, sondern auch als propagandistische Bühne an. Einigermassen unbehelligt konnte eine Vielzahl anarchistischer Zeitungen, Revues, Almanache und Flugschriften geschrieben, gedruckt und vertrieben werden, die Welt- und damit auch Selbstbilder der Anarchisten und Anarchistinnen der Schweiz vermittelten und einen guten Einblick in die Selbstwahrnehmung dieser radikalen sozialphilosophischen Gemeinschaft geben. Dies besonders in der Periode von 1885–1914, weil 1885 mit der bundesanwältlich geführten Durchleuchtung des anarchistischen Milieus im Zuge einer (vermeintlichen) von Anarchisten geplanten Bundeshaussprengung die Repression offiziellen Charakter erhielt und damit die angebotene Gemeinschaft verstärkt zum Thema werden musste, wollte die Bewegung nicht an den Steinen zerbrechen, die ihnen von nun an immer häufiger in den Weg gelegt wurden, sei es mit Konfiskationen von Propagandamaterial oder Schwarzen Listen, die an Industrielle weitergegeben wurden. Quellen dazu liefern rund 21 anarchistische in der Schweiz erschienene Zeitungen, die im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich und dem Centre International de Recherches sur l’Anarchisme in Lausanne vollständig und grossenteils als Originalausgaben zugänglich sind. In einem zweiten Hauptteil interessiert auch die Fremdwahrnehmung, die über die Auswertung von sieben bürgerlich-liberalen, sozialdemokratischen und als neutral verstandenen Zeitungen herausgearbeitet werden soll. Gleichermassen als Sprachrohr wie als Formantin der öffentlichen Meinung vermochte sie, den Diskurs zu lenken, wie Anarchisten wahrgenommen wurden. In welcher Position sich Anarchistinnen und Anarchisten, in welcher Position sich der Anarchismus selbst gesellschaftlich befand, findet sich in diesen Quellen. In ebendiesem Rahmen bleibt auch abzuklären, ob Anarchie-Begriffe durch die stetigen Erwähnungen im Zusammenhang mit Bombenwürfen und Attentaten bereits in der Jahrhundertwende zu Reizworten degradiert wurden.

Das Wechselspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmung und –verortung und die daraus entstehenden Konsequenzen im gesamtgesellschaftlichen Kontext, soll die Haupterkenntis dieser Arbeit liefern: und eine Skizzierung der Kollektiven Identität der Anarchistinnen und Anarchisten der Jahrhundertwende in der Schweiz ermöglichen. So soll ein Portrait einer radikalen sozialphilosophischen Gemeinschaft entstehen, die sich selbst zur erleuchteten Avant-Garde überhob und von aussen zu tierhaften Unmenschen heruntergespielt wurde, die aber wohl eher als idealistische Altruisten zu verstehen sind, die mit Wort und Tat nichts Geringeres als die Umgestaltung der Zustände zu erreichen suchten, um die gerade in den vorletzten Jahrhundertwende ungeschminkt zu Tage tretenden sozialökonomischen Missstände einzuebnen.