Navigation auf uzh.ch

Suche

Historisches Seminar

Ralf Prescher

Deutscher Einfluss auf die Verfassungsentwicklung der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. Ziel der Untersuchung:

Das Forschungsvorhaben zielt darauf ab, den mittel- und unmittelbaren Einfluss des deutschen Liberalismus in seinen verschiedenen Facetten sowie anderer politischer Richtungen der Jahre 1800 bis 1848 auf die Verfassungs- und Rechtsentwicklung der schweizer Kantone und des 1848 entstandenen Bundesstaates zu untersuchen und zu ergründen, in welchem Maße bereits vor der Emigrationswelle der Jahre 1849 fortfolgende deutsche Emigranten das politische und gesellschaftliche Leben in der Schweiz prägten.

2. Stand der Forschung:

In der einschlägigen Literatur wird ein starker Einfluss britischen und französischen Gedankengutes sowie der US-amerikanischen Verfassung und der französischen Revolution auf die schweizerische Verfassungsentwicklung konstatiert. Jedoch wurde bisher ein deutscher Einfluss auf die liberalen Bewegungen und die konservative Gegenbewegung der 1840er Jahre meistenteils negiert oder nur beispielhaft dargestellt. Eine umfassende und tiefgründige Untersuchung zum kulturgeschichtlich nächsten Nachbarstaat der Eidgenossenschaft in diesem Hinblick fehlt gleichwohl ganz. Zudem setzen die meisten Studien erst mit dem Scheitern der Deutschen Revolution 1849 und der nachfolgenden Migrationswelle ein und streifen die Wirkungsgeschichte von Immigranten in der Schweiz vor 1849 nur.

3. Das Untersuchungsthema im deutsch-schweizerischen historischen Kontext:

Die Schweizerische Eidgenossenschaft weist als eines der wenigen Länder der Welt eine umfangreiche direkte Beteiligung ihrer Bürger am politischen Entscheidungsprozess auf, deren Wurzeln in der Literatur teilweise im 13. Jahrhundert angesiedelt werden. Die neueste schweizer Geschichte beginnt unterdes 1798 mit der Aufrichtung der Helvetischen Republik auf Drängen Napoleon Bonapartes. Der französischerseits oktroyierte Einheitsstaat mit garantierten Freiheiten und gewähltem gesamtschweizerischen Parlament scheiterte letztlich 1803 und wurde durch die Mediationsakte ersetzt. Neben dem Wegfall der vorher verbindlich zugesicherten Grundrechte wie Meinungsäußerungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, restituierte die Mediationsakte auch die, in der Helvetik abgeschafften, kantonalen Strukturen und installierte abermals die, sich aus weisungsgebundenen kantonalen Gesandten zusammensetzende, Tagsatzung als gesamteidgenössische Vertretung. Die Kantone als nunmehr wieder souveräne Träger der staatlichen Hoheit kehrten weitgehend zu ihren alten Verfassungen von vor 1798 zurück. Während in den Landorten die Landsgemeindedemokratie wieder eingeführt wurde, erfolgte in den Stadtorten die weitgehende Rückkehr zur vornapoleonischen Aristokratenherrschaft resp. Zunftverfassung. Diese Rückkehr zur kantonalen Souveränität wurde auch nach den napoleonischen Befreiungskriegen nicht angetastet. Die Mediation ging 1815 im Zuge der europäischen Friedensverhandlungen in die Zeit der Restauration über. Der nunmehr aus 22 (nominal) gleichberechtigten Kantonen bestehenden Eidgenossenschaft wurde 1815 durch Garantieerklärung der europäischen Mächte die "ewige Neutralität" versichert und wurde 1817 als einziger europäischer Staatenbund mit republikanischer Grundordnung Mitglied der Heiligen Allianz. Der Bundesvertrag von 1815 beschränkte die gesamteidgenössische Kompetenz im Wesentlichen auf die Regelung außenpolitischer und militärischer Fragen, überlies die Ausgestaltung der bürgerlichen Freiheiten und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger an der Gesetzgebung den einzelnen Kantonen und enthielt letztlich auch keine verbindlichen Freiheiten auf Freizügigkeit oder freie Gewerbeausübung mehr. Obgleich sich in der Schweiz zahlreiche neue politische Strömungen und Vereine ausbreiteten, war die Zeit von 1815 bis 1830 hauptsächlich geprägt durch wenige liberale Reformen und eine vorrangig konservative Politik der Kantone. Mit der Mediations- und Restaurationszeit beginnt jedoch die umfassend kodifizierte schweizerische Verfassungs- und Rechtsgeschichte. Während die Jahre der Restauration in der Schweiz politisch relativ ruhig blieben, formierte sich in Deutschland aus der Begeisterung der napoleonischen Befreiungskriege die national-liberale Bewegung, manifestierte sich insbesondere in der Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft und drückte sich letztlich u.a. im Wartburgfest 1817 und in politisch motivierten Attentaten auf Reaktionäre aus. Die Heilige Allianz, welche bis 1830 weitgehend ohne Disharmonien funktionierte, wirkte im Deutschen Bund hauptsächlich durch die Reaktionspolitik des Fürsten Metternich. Die 1819 verhängten Karlsbader Beschlüsse zielten dementsprechend vorrangig auf die möglichste Unterdrückung freiheitlicher und nationaler Gedanken durch eine weit reichende Pressezensur, die Installation einer Geheimpolizei u.a. in Form der Mainzer Zentraluntersuchungskommission und die möglichst lückenlose Überwachung der Universitäten. Die Mitgliedschaft in geheimen Verbindungen war verboten und wurde neben Relegation auch mit Strafverfolgung geahndet. Professoren und Staatsbeamte, die sich des Liberalismus verdächtig machten, mussten mit ihrer Entlassung rechnen. Zahlreiche deutsche Liberale wählten daher bereits zwischen 1815 und 1830 den Weg der Emigration nach den USA, Frankreich, England oder aber in diejenigen schweizer Kantone, die einige freiheitliche Bestimmungen der französischen Vorherrschaft auch nach 1815 in ihren Verfassungen und Gesetzen beibehielten resp. in der Zeit der Restauration einführten. Die französische Julirevolution von 1830 bewirkte auch in den schweizer Kantonen eine Liberalisierung der Verfassungen. Ausgelöst wurde diese Liberalisierung zu Beginn der 1830er Jahre durch einen erheblichen Aufschwung der Presse und teilweise auch durch Volkserhebungen in einzelnen Kantonen. Bei dieser Bewegung Anfang der 1830er Jahre ist erstmals auch deutscher Einfluss auf die konkrete kantonale Verfassungsentwicklung ersichtlich. Geprägt waren diese 1830 und 1831 in zahlreichen Kantonen revidierten Verfassungen weitgehend durch eine Vielzahl von persönlichen Freiheitsrechten und durch das Prinzip der Volkssouveränität. Dabei spielte der jeweilige Grad der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Kantone in Hinblick des Umfangs der gewährten Volksrechte ebenso eine Rolle, wie die Religionszugehörigkeit der Bewohner. Am nachhaltigsten und weitest reichenden wurden liberale Reformen in den sog. Regenerationskantonen vorrangig protestantischer Prägung verwirklicht. Herausragende Bedeutung gewann bei den Reformen der kantonalen Verfassungen der 1831 erschienene Verfassungsentwurf des hessischen Radikalen Ludwig Snell. Die Reform des Bundesvertrages scheiterte zwar 1833, doch darf auch hier ein Einfluss des Snell’schen Verfassungsentwurfes sowie weiterer deutscher politischer Flüchtlinge auf die Beratungen vermutet werden. Zumal die Entwürfe für eine Revision des Bundesvertrages die Grundlage für die tatsächliche Reform von 1848 bildeten. Waren bereits die Jahre 1815-1830 durch eine latente Einwanderung deutscher Liberaler und Radikaler in die Schweiz geprägt, so nahm diese Bewegung durch die neuerliche Repression im Nachklang des Hambacher Festes 1832 und des Frankfurter Wachensturms 1833 erheblich zu. Dabei war die Wanderungsbewegung nicht allein geprägt durch politische Verfolgung, sondern durchaus auch durch den romantischen Geist der Zeit oder die profane Sehnsucht nach auskömmlicher Arbeit. Nichtsdestoweniger wurde diese zunehmende Einwanderung durch die Liberalisierung der kantonalen Politik – insbesondere des Asylrechtes – erst möglich, welche gleichzeitig mit dem Schwinden der politischen Druckmöglichkeiten der Restaurationsstaaten einherging. Entsprechende Untersuchungen zum genauen Umfang der Emigration aus dem Deutschen Bund vor 1848 fehlen indes weitgehend. Jedoch ist eine nicht unerhebliche Emigration insbesondere intellektueller Deutscher in dieser Zeit unverkennbar. Diese deutschen Migranten setzten ihr politisches und publizistisches Engagement – unter Ausnutzung des liberalen Presserechts vornehmlich der Regenerationskantone – fort und bildeten religiös, literarisch, sozial und politisch motivierte Vereine. Dabei reichte der Aufenthalt in der Schweiz von nur wenigen Wochen bis hin zur dauerhaften Niederlassung und Naturalisation. Für die schweizerische Verfassungs- und Rechtsentwicklung scheint daher eine direkte oder indirekte Assimilation deutschen Gedankengutes in den verschiedenen politischen Anschauungen sehr wahrscheinlich.

4. Forschungsfokus und Vorgehensweise:

Die zu veranstaltende Untersuchung setzt in der Phase der Mediation an und will insbesondere die Zeit der Restauration und Regeneration betrachten. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei die zwischen 1800 und 1848 in die Schweiz zeitweise oder dauerhaft immigrierten Deutschen und deren direkter oder indirekter Einfluss auf die Verfassungsrevisionen und Rechtssetzungen während dieser Jahre. Insbesondere sind dabei die demokratische Umgestaltung und die Einbringung von Volksrechten in die kantonalen Verfassungen von Interesse. Im weiteren Fokus soll aber auch der Einfluss der verschiedenen Strömungen des deutschen Liberalismus und anderer politischer Ideen auf schweizer Politiker untersucht werden. Das Anfangsjahr der Untersuchung soll dabei nicht als absolut angesehen werden, wurde aber gewählt, da die Schweiz, wie bereits erwähnt, mit Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals eine gesamtstaatliche Gesetzeskodifikation erhielt und die deutsche (politische) Immigration erst ab 1815 nennenswerte Ausmaße annahm Das Endjahr der Untersuchung (1848) markiert die erste Bundesverfassung ebenso wie den (ersten) Höhepunkt der deutschen liberalen Revolution. Mit dem Scheitern der deutschen Revolution 1849 verliert sich die Überschau- und Fassbarkeit deutscher Wirksamkeit in der Schweiz im stark vermehrten Flüchtlingsstrom. Eine weiter reichende Untersuchung etwa bis zur Bundesreform 1874 würde das Forschungsthema zu sehr strecken und bedürfte m.E. einer eigenen Folgeuntersuchung. Die Untersuchung soll demzufolge zwei thematische Schwerpunkte umfassen:

1) direkter Einfluss deutscher Immigranten auf die Entwicklung der Bundesverfassung von 1848 und die kantonalen Verfassungen der 1830er und 1840er Jahre:

Hierbei soll insbesondere untersucht werden, wie sich das politische Wirken einzelner Personen deutscher Provenienz konkret auf den Entwicklungsprozess der Bundesverfassung und bestimmter kantonaler (Regenerations-)Verfassungen gestaltet hat. Im Vordergrund stehen dabei die bereits frühzeitig immigrierten Intellektuellen, die sich aktiv am politischen Geschehen der Kantone und des Bundes beteiligten und insbesondere in den Revisionskommissionen der frühen 1830er Jahre direkt oder indirekt mitwirkten. Auch ist die Einflussnahme auf die, teils in den 1840er Jahren erfolgte, konservative Gegenbewegung und die folgende radikale Phase samt Sonderbundskrieg zu beleuchten. Dieser Untersuchungspunkt wird einzelbiografisch ansetzen und verfolgen, in welchem Maße deutsche politisch aktive Immigranten versuchten, die eigenen Vorstellungen einer idealen Konstitution in der Kleinräumigkeit der schweizer Kantone einzubringen resp. zu verwirklichen. Dabei spielt die Vorgeschichte der einzelnen Personen in Hinblick auf Art, Umfang und Ort der erworbenen Bildung, das berufliche und politische Vorleben sowie der Grund ihrer Emigration eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zum konkreten Wirken sollen u.a. Verhandlungsprotokolle der einzelnen Verfassungsrevisionskommissionen , die Publikationstätigkeit der Untersuchungssubjekte , Sekundärüberliefungen sowie die bereits erschienene Literatur über deren Wirken ausgewertet werden. Da in diesem Untersuchungsbereich bereits konkrete Ansätze vorhanden sind, soll anhand weiterer ausgewählter Lebenswege eingehend untersucht werden, inwieweit die Regeneration Impulse durch die verschiedenen Richtungen des deutschen Liberalismus und anderer politischer Strömungen erhalten hat und betrachtet werden, inwiefern sich diese in den Konstitutionen und Rechtssetzungen der Regenerationszeit niederschlugen.

2) Mittelbarer deutscher Einfluss auf die Entwicklung schweizerischer Rechtsnormen:

Nach Auswertung des konkreten und unmittelbaren Einflusses einzelner Personen soll aufgrund publizierter und archivarischer Quellen erörtert werden, wie sich die deutsche Presse in der Schweiz und die Lehre bestimmter Hochschullehrer u.a. an den Universitäten Basel, Zürich und Bern auswirkte. Ebenso steht hierbei die mittelbare Wirkung politischer Zirkel, theologische und pädagogische Reformen durch Deutsche und die Rezeption deutscher Publizistik in der Schweiz im Fokus der Betrachtung. Dabei sollen alle politischen Richtungen vom radikalen, über den gemäßigten Liberalismus bis hin zum Konservatismus und dem Sozialismus Betrachtung finden. Auch soll untersucht werden, ob und in welchem Maße schweizer Politiker durch ihre Studien an deutschen Hochschulen bzw. durch Rezeption der politischen Presse und Publizistik liberales Gedankengut explizit deutscher Prägung aufnahmen und in die Diskussionen um Verfassungsrevisionen einbrachten. Maßgebliche Quellen werden hierbei insbesondere die Memoiren und schriftlichen Hinterlassenschaften sowie Sekundärüberlieferungen wichtiger Akteure der Regenerationszeit als auch Sitzungsprotokolle der politischen Organe sein . Eine klare und scharfe Trennung zwischen den einzelnen Untersuchungspunkten wird es freilich nicht geben können, da zahlreiche Personen insbesondere in den 1830er und 1840er Jahren sowohl auf kantonaler und eidgenössischer Ebene politisch aktiv gewirkt haben und sich gleichzeitig etwa publizistisch oder gesellschaftspolitisch engagierten. Beide Untersuchungspunkte ergänzen sich deshalb sinnvoll. Zur eigentlichen Untersuchung wird es gleichwohl nötig sein, eine Auswahl bestimmter Personen und einzelner Kantone zu treffen. Bei der Vielzahl deutscher Emigranten im Beobachtungszeitraum ist eine Auswahl besonders engagierter Immigranten in doppelter Hinsicht geboten. Zum einen bliebe eine umfassende Betrachtung deutscher Immigration zwischen 1800 und 1848 zu wenig tiefgründig. Zum zweiten lässt eine konzentrierte Untersuchung bestimmter Personen eine facettenreiche und dezidierte Aussage über deren Wirken auf allen zu untersuchenden Ebenen erwarten.

5. Relevanz des Themas:

Da, wie beschrieben, neuere tiefgründige Untersuchungen der verschiedenen Strömungen des deutschen Liberalismus in ihrem Verhältnis zur Gesetzeskodifikation der Schweiz vor 1849 weitgehend fehlen, erscheint eine solche Untersuchung sehr lohnenswert, zumal nicht nur Ludwig Snell, Heinrich Daniel Zschokke und Friedrich Frey-Herosé bedeutende politische Persönlichkeiten der Regenerationszeit waren, sondern auch die starke Prägung der höheren Lehranstalten mit deutschem Lehrpersonal und der vorrangige Besuch führender schweizer Politiker an deutschen Universitäten bezeichnend ist. Beiden Aspekten wurde in der bisherigen Forschung wenig Beachtung geschenkt. Auch wurde bisher kaum berücksichtigt, dass die Ideen des französischen und angloamerikanischen Liberalismus durch deutsche Theoretiker und Philosophen wie Fichte, Dahlmann und Hegel beispielsweise in Hinblick des gemeinschaftlichen Eigenrechtes und des föderalistischen Staatscharakters erweitert und im Kreise des schweizerischen Liberalismus rezipiert wurden. Weiter reichenden Einfluss lassen darüber hinaus die bisher wenig erforschten Studienzirkel, Gesellenvereinigungen, Geheimbünde, Studentenverbindungen deutscher Prägung, politische Clubs sowie literarische und gesellschaftliche Zusammenschlüsse vermuten. Nicht zuletzt würde die beschriebene Untersuchung auch einen wesentlichen Beitrag zur deutschen rechtsgeschichtlichen Forschung leisten. Der deutsche Liberalismus wird für das 19. Jahrhundert mit der Niederschlagung der Revolution 1849 meistenteils als gescheitert angesehen und erst mit der Weimarer Republik rehabilitiert. Ließe sich ein wesentlicher Einfluss deutscher liberaler Gedanken auf die Rechtsentwicklung der Schweiz insbesondere in Hinblick der direkten Demokratie und von Grundrechten für die Zeit bis 1848 nachweisen, so ergäbe sich eine neue Sichtweise nicht nur auf die schweizerische Restaurations- und Regenerationszeit, sondern auch für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts.