Von Wert und Entbehrlichkeit einer Schüssel

Der Diskurs um die ‚Nachhaltigkeit‘ begleitet das tägliche Konsumverhalten von uns SchweizerInnen auf Schritt und Tritt. Wir haben den Luxus, z. B. unsere Lebensmittel nach Kriterien der Herkunft sowie Verpackungsart auszusuchen, und wir versprechen uns neben der Erhaltung unserer Umwelt insgeheim auch ein gesünderes Leben von nachhaltig gewonnenen Produkten. Bei Möbeln wird – wer es sich leisten kann – auf ressourcenorientiert gewonnene Rohstoffe und die gewerbliche Produktionsart geachtet, die Einzigartigkeit, Qualität und somit Langlebigkeit der Gegenstände inszenieren. Doch wie steht es um den langfristigen Erhalt der Schüssel, in welcher unser veganes Bio-Müsli serviert wird? Werden die Archäologen der Zukunft unterscheiden können, was unser ‚Sonntagsgeschirr‘ und was alltägliches Geschirr war?

Stolze 610 ‚Stutz‘ kostet eine einzelne Schüssel aus der Serie Versace Scala Palazzo Verde Versace der Marke „Rosenthal meets Versace“ und besticht durch ihre Ästhetik mit sorgfältig handaufgemalten, farbenfrohen Motiven. „Luxus…“ seufzen Sie nun vielleicht… „Geldverschwendung!“ rufen wir entschieden und schielen auf die weisse 1 CHF-Ikea-Schüssel neben dem Homeoffice-Computer, die hält was sie verspricht – nämlich unser Müsli an Ort und Stelle. Sitzt irgendwo gleichzeitig auch eine Person am Frühstückstisch, die genüsslich aus der Versace-Schüssel löffelt? Schwer vorstellbar… Die werden doch bestimmt nur mit dem Ziel einer Geldinvestition bzw. als Sammlungsstück oder Geschenk gekauft. Ansonsten dienen sie höchstens als ‚Sonntagsgeschirr‘, das dann nicht nur einen speziellen Anlass bzw. das dazu servierte Menü aufwertet und die Teilnehmer rituell zelebrieren lässt, sondern auch den Wohlstand der Gastgeberin bzw. des Gastgebers repräsentieren soll – oder?

Solche Thesen werden den ArchäologInnen bekannt vorkommen, denn nicht selten werden sie entsprechend auf die uns so zahlreich überlieferte Gefässkeramik der Antike projiziert. Das glänzende und somit aufwendiger produzierte Geschirr wird als wertvoller gehandelt als die einfachere Gefässkeramik, zu welcher Schüsseln, Teller, aber auch Kochtöpfe und viele weitere Formen zählen – die moderne Dichotomie von ‚Sonntagsgeschirr‘ und ‚Alltagsgeschirr‘ ist nach dieser Schlussfolgerung also schnell auch über den antiken Haushalt gestülpt. Doch während die Kriterien für den höheren Preis eines Gefässes der Marke „Versace meets Rosenthal“ im Vergleich mit der industriell und seriell produzierten, farblosen Ikea-Schüssel anhand zeitgenössischer Wertvorstellungen nachvollziehbar sind, fehlen uns entsprechende Informationen zur Antike.

Schüssel in schwarzgebrannter Glanztonkeramik, 4. Jh. v. Chr. (Arch. Slg. Inv. 5511)

In Wahrheit zeigen Resultate aktueller Forschungen, dass alle Arten von Geschirr gleichzeitig, durchaus alltäglich und auch in durchschnittlichen Haushalten verwendet wurden. Z. B. finden sich in jedem archäologischen Kontext – ob Heiligtum, Grab oder Wohnhaus – einfachere Gefässe in Begleitung von aufwendiger produzierter Keramik, welche ihr zahlenmässig selten markant unterliegt, somit also nicht als speziell rar und nur deswegen als wertvoll interpretiert werden kann.

Keramikinventar des E-Raumes von Haus 1 der sog. Agorasiedlung vom Monte Iato, Sizilien (zw. 500/490 und ca. 460 v. Chr.): Glänzende Trinkgefässe und Lekythos neben einfacherer Gefässkeramik einheimischer Produktion.

Die Frage nach dem ‚Wert‘ ist also vielleicht bereits aus einer verfälschenden Perspektive gestellt. Wir erachten heute Dinge als wertvoll oder kostbar, die selten oder sogar einmalig sind und/oder den tatsächlichen Geldwert mit gleichwertigem Material aufwiegen. Der Wert wird, je seltener das Objekt, desto unschätzbarer. In Folge gilt: je geläufiger, herkömmlicher, verbreiteter und somit erschwinglicher, desto entbehrlicher sind Elemente unseres Lebens.

Sogenannte Flicklöcher an einfacher Gefässkeramik sowie gleichsam aufwendiger produzierten Gefässen belegen hingegen, dass keinerlei Geschirr entbehrlich war in der Antike. Die kleinen Bohrungen zeugen von höchst aufwendigen Reparaturprozedere mittels Bronzedraht, Blei- oder Eisenklammern, welche eingesetzt wurden, um die Lebensdauer eines Gefässes zu verlängern.

Flicklöcher an einem rotfigurigen Kelchkrater des sog. Villa-Giulia Malers, um 450 v. Chr. (Arch. Slg. 3549)
Flickloch an einer Schüssel aus einem Wohnhaus in Spina, 4. Jh. v. Chr. (Inv. 2562)
Flickloch mit Eisenklammerresten an einem Kochtopffragment aus einem Wohnhaus in Spina, 4. Jh. v. Chr. (Inv. 5059)

Wir ArchäologInnen restaurieren heute noch antikes Geschirr, kleben passende Scherben zu Vasen oder gipsen fehlende Teile, um sie zu rekonstruieren. Diese ‚Objekte‘, welche früher dank ihrer Funktion im Alltagsleben elementar wichtig waren, sind heute nach zeitgenössischen Standards eben wertvoll für uns.

Ganz anders gehen wir mit unserem eigenen Alltagsgeschirr um. Der mittlerweile bräunlich verfärbte Sprung in der eingangs erwähnten Ikea-Schüssel zeugt von ihrem drohenden Ende – bald werden ihre Scherben, ohne zu zögern, dem Schicksal des Restmülls übergeben werden. Ein ähnliches Prozedere dürfte auch für die Versace-Schüssel zu erwarten sein, denn schlussendlich ist auch diese für die Besitzer ersetzbar. Restauriert wird an unseren Alltagsgegenständen kaum mehr. Wie wird also ein zukünftiger Archäologe erkennen können, welches Ihre Lieblingstasse, welcher Teller ein Erbstück der Grossmutter, welches die ‚guten‘ Weingläser und welches die entbehrliche Ikea-Schüssel waren, sollte ihr Haus in diesem Augenblick zusammenkrachen?