Archäologische ‚Körperwelten‘

Die Ausstellungsräumlichkeiten der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich dienen zugleich einem vor rund 2300 Jahren verstorbenen Ägypter als (letzte?) Ruhestätte. Die Mumie mitsamt Holzsarg aus Achmim (Arch. Slg. Inv. 20) wurde nun im Rahmen der aktuellen Gebäudesanierung zum ersten Mal seit 1986 in eine neue Glasvitrine verlegt – mit dem Ziel sie bald wieder unseren Besuchern präsentieren zu können. Schliesslich stehen wir als öffentliche Sammlung und Verwalterin von materiellem und Immateriellem Kulturerbe im Dienste der Gesellschaft und müssen deren Vermittlungs- und Bildungsanspruch gerecht werden. Dürfen wir dabei die Vermittlungsrolle und den Bildungsgehalt einer Leiche hinterfragen?

Der Tod birgt vielerlei Faszination für die Lebenden. Er bedeutet das Ableben unserer Körperzellen und somit die Stilllegung der Träger unserer Gedanken und des Ich-Bewusstseins. In mancherlei Verständnis hört der einzelne Mensch damit auf zu existieren, in vielen Kulturen und Religionen ist der tote Körper hingegen nur die Hülle für die wahre menschliche Essenz, welche mit dem Tod eine neue Reise antritt. Kein Wunder bewirken Leichen bei allen BetrachterInnen eine emotionale Regung und konfrontieren sie mit dem eigenen Körperbewusstsein sowie dem Unausweichlichem, das uns allen bevorsteht. Was aber hat diese sehr individuelle und in vielerlei Hinsicht intime Sensation mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Archäologie am Hut?

Gräber und Nekropolen bilden bis heute wichtige archäologische Quellen zum Leben unserer Vorfahren. Ein einzelner Grabkomplex kann anhand der Beigaben Informationen über den Totenkult und den damit zusammenhängenden Glauben einer Kultur aber auch grundlegende chronologischen Zusammenhänge einzelner Objekte liefern. Die Kontextualisierung von gewonnenen Daten der Skelette einer Nekropole, geben weiterführende Auskunft über die Demografie einer Siedlung, sowie mögliche Krankheiten oder Ernährungsgewohnheiten ihrer BewohnerInnen. Zur Analyse der menschlichen Überreste aus einer archäologischen Grabung, werden Spezialisten anderer Disziplinen, wie z. B. AnthropologInnen herbeigezogen, die mittels non-invasiver und invasiver Methoden Untersuchungen zu einzelnen Aspekten vornehmen*. Wir ArchäologInnen können anschliessend anhand der Ergebnisse dieser Untersuchungen und deren Kontextualisierung mit den Funden und Befunden übergreifende Thesen formulieren.

Ausgrabung eines mittelalterlichen Grabes auf der Agora vom Monte Iato in Sizilien. Die Schutzanzüge der AusgräberInnen dienen dazu, die Knochen bei der Grabungstätigkeit nicht zu kontaminieren um später valable Proben entnehmen zu können.

In der Archäologie bilden menschliche Überreste somit eine wichtige Datenquelle. Wie Dieter Quast kürzlich in seinem Denkanstoss im Newsletter der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (DGUF) wohl richtig folgert, kann dies zu einer «erkenntnistheoretischen Entfremdung» im Zusammenhang mit Überresten eines vergangenen Artgenossen/einer vergangenen Artgenossin führen. Die Körperteile werden zu einem wissenschaftlichen Objekt apostrophiert und anderen archäologischen Artefakten gleichgestellt. Ein Prozess, der für die objektive Forschungstätigkeit womöglich vonnöten ist aber unreflektiert auch unter WissenschaftlerInnen zu ethisch fragwürdigen Handlungen führen kann, wie in den sozialen Medien kursierende Selfies mit frisch ausgegrabenen Skeletten aufzeigen. (Quelle: „Wie gehen wir eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ von Dieter Quast)

Betrachtet man die erfolgreichen Besucherzahlen der Wanderausstellung „Körperwelten“ oder die nur verhaltene Evaluation von menschlichen Exponaten und deren Inszenierung in öffentlichen Museen, fragt sich, ob oben genannte Entfremdung und Objektifizierung von menschlichen Überresten zu ‚wissenschaftlichem Zweck‘ nicht ein Überprodukt unserer säkularisierten und individualistischer Gesellschaft ist. Die Grenzen des ethisch Vertretbaren werden oft nämlich nicht beim Menschsein an sich gezogen, sondern dessen emotionalem Wert im kollektiven Gedächtnis:

Wenn ein Mensch aus Europa oder den Staaten zu Lebzeiten sein Einverständnis für eine Körperspende zur Plastination und Ausstellung gegeben hat, darf man seine Leiche zur Schau stellen – bereits dies ist aber nicht in jedem Land nach den gleichen ethischen Standards geregelt. Wenn der Mensch seit längerem tot ist und weder Angehörige hat oder einer aktiven Glaubensgemeinschaft angehört, verjährt die Verfügungsbefugnis über seinen eigenen Körper und er gilt als wissenschaftliches Exponat. Die drei Leichen der Matrosen, welche 1845 an der erfolglosen Arktis-Expedition Sir John Franklins teilnahmen, wurden hingegen nach erfolgten wissenschaftlichen Untersuchungen von den Forschern auf Beechey Island bestattet – Weil ihr Tod nachweislich tragisch war, weil sie Europäer waren oder weil sie erst vor 140 Jahren ihr Ende fanden?

Kartonage der Mumie aus der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich (Inv. 20) mit Symbolen und Szenen aus der altägyptischen Totenwelt.

Was macht menschliche Überreste zu einem wissenschaftlichen Exponat? Wie oben erwähnt wird die eigentliche Forschung der ArchäologInnen vor der Ausstellung in einem Museum vollzogen und die Ergebnisse sind zumeist nicht am Exponat selber, sondern dessen Kontextualisierung mittels Begleitmedien im Ausstellungsraum oder den Forschungsbeiträgen ablesbar. Alle Ergebnisse und Erkenntnisse zur Mumie mitsamt Sarkophag in der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich, können beispielsweise im Sammlungskatalog „«… eine wertvolle Bereicherung» Sarg und Mumie eines Mannes aus Ägypten in der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich“ nachgelesen werden. Der Band enthält übrigens auch Fotos der Mumie.

Kartonage des Fussteils der Mumie aus der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich (Inv. 20). Aufgrund deren schlechter Erhaltung, musste der Konservator-Restaurator die Fragmente 1986 auf einem künstlichen Träger verkleben, der über den Fussteil der Mumie geschoben wurde.

Die von MuseumsmitarbeiterInnen vollzogene Konservierungsmassnahmen an den Körperteilen verfälschen die oftmals die argumentierte „historische Realität“. Gleiches gilt wenn eine Mumie z. B. zu einem Zeitpunkt nach ihrer Exhumierung aus ihren Bandagen ausgewickelt wurde, wie das Exponat im Naturhistorischen Museum Winterthur, deren Ausstellung kürzlich einen Artikel im Tages Anzeiger thematisiert wurde.

Was aber spricht nun gegen die Ausstellung einer über 2000 Jahren alten Mumie in einem Archäologischen Museum? Ägyptische Mumien, sowie übrigens ein Grossteil der Inventare von Archäologischen Museen aller Welt, wurden vor mehr als 100 Jahren ausgegraben und bilden die Wirklichkeit des Kolonialismus und (Kunst-)handels im 19. und 20. Jahrhundert ab. Ein historisches Kapitel, das aufgearbeitet gehört, wie die Leiterin des Naturmuseums Winterthur richtig sagt (Quelle: Tages Anzeiger vom 05.07.2021). Die Mumien sollten somit keinesfalls in Depots ‚versteckt‘ oder womöglich tabuisiert werden, was bei vielen musealen Objekten fragwürdiger Herkunft durchaus gängig ist. Ein Vorgehen das im Hinblick auf die Funktion von Museen als Erhalterinnen und Verwalterinnen des menschlichen Erbes, das der Öffentlichkeit jederzeit zugänglich sein sollte, gesehen werden muss.

Die vermeintliche Pattsituation im Diskurs, könnte durch alternative Fragen zu „Soll oder soll nicht ausgestellt werden?“ neu evaluiert werden: Wird bei der Inszenierung einer ’nackten‘ Mumie in einer symbolischen Transportkiste mit dem Stempel „Alexandria“ im Naturhistorischen Museum Winterthur den BesucherInnen tatsächlich das folgenreiche historische Kapitel der Kolonisation und damit verbundenem Kunsthandel erklärt? Wäre es so abwegig den bemalten Holzsarkophag über der Mumie der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich zu schliessen, dessen kunstvolle Ausführung damit in den Vordergrund zu stellen und die ebenso sorgfältig bemalten Kartonagen separat zu zeigen? Und falls nicht: Wäre es nicht konsequenter das Tuch, welches seit 1986 das Gesicht der Leiche verdeckt, zu entfernen und mittels Texten den ethischen Diskurs zu menschlichen Überresten im Museum an den Besucher/die Besucher bringen?

Und schliesslich: Wie sind menschliche Exponate zu beurteilen, die keiner kolonialen Sammlungsgeschichte angehören, sondern aus rezenten Ausgrabungen stammen, wie der sog. Ötzi im Südtiroler Archäologiemuseum? Wo liegt in diesen Fällen die Legitimation? Die Leiche des ‚Mannes vom Tisenjoch‘ zeigt keine „historische Realität“, sondern einfach Realität: Den verwesten Körper eines toten Menschen.

*Nicht alle archäologischen Grabungsprojekte verfügen über die finanziellen, technischen und logistischen Mittel um alle nötigen Analysen an menschlichen Überresten eines Grabes oder einer Nekropole durchführen zu können. Eine fachgerechte Einlagerung in entsprechenden Depots erlaubt eine nachträgliche Untersuchung. Dies auch im Falle, dass naturwissenschaftliche Methoden weiterentwickelt werden und so mehr Resultate liefern könnten.

Quellen und weiterführende Literatur:

Ethische Richtlinien für Museen vom Internationalen Museumsrat ICOM

Ethikkodex für Naturhistorische Museen der Arbeitsgruppe Ethik des Internationalen Komitees für Naturhistorische Museen und Sammlungen im Internationalen Museumsrat ICOM NATHIST

Tages Anzeiger online vom 05.07.2021: „Muss das Museum diese Leiche wirklich zeigen?“ von Martin Huber

100. DGUF-Newsletter online vom 12. Mai 2021: „Wie gehen wir eigentlich mit menschlichen Überresten um?“ von Dieter Quast, Der 100. DGUF-Newsletter vom 12. Mai 2021

Der Spiegel Geschichte online vom 07.04.2020: „Darf man Mumien ausstellen?

Tagblatt online vom 26.05.2017: „ETHIK: Im Museum gibt es tot und töter“ von Elisabeth Reisp

Lawrence Burns (2007): „Gunther Von Hagens‘ Body Worlds: Selling Beautiful Education“The American Journal of Bioethics 7 (4), 12–23. doi:10.1080/15265160701220659 <23.07.2021>

National Public Radio NPR online vom 11.08.2006: „Origins of Exhibited Cadavers Questioned“ von Neda Ulaby