Digital Religion(s): Der Blog

Aus dem Tagebuch einer Nachwuchswissenschaftlerin des UFSP «Digital Religion(s)»

3. November 2021 | Jasmine Suhner | Keine Kommentare |

Fragmente inter- und transreligiöser Reflexionen

Religiöse Toleranz, Religionsfreiheit und religiöse Autonomie sind keine Selbstverständlichkeit. Sie gehören zu den Werten, die immer wieder von Neuem errungen werden müssen, um Geltung und Anerkennung finden zu können. Sie sind immer abhängig vom Engagement der verantwortlichen Gruppen in der Gesellschaft, von der Leidenschaft und der Offenheit, welche der/die Einzelne dafür einzusetzen bereit ist.

Erste Novemberwoche 2021: «Woche der Religionen» in der Schweiz.

25. Februar 2022: Interreligiöse Lange Nacht der Theologien: «Transreligiös.Weiter.Denken.»

Regelmässig stattfindende Anlässe des «Zürcher Instituts für Interreligiösen Dialog» (Zürich), des «Haus der Religionen» (Bern), von «Iras Cotis», der interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz.

Hinter all diesen Initiativen steht die gleiche Einsicht: Die religiös-kulturelle Buntheit von Ansätzen, Glaubens- und Unglaubensbekenntnissen bringt uns nicht nur Afropfingsten, Zazen für müde Manager*innen, mystisch-orientierte wisdom leadership Ausbildungen und die Denkmöglichkeit des atheistisch-Christseins. Sondern auch Probleme. Obwohl es dem Selbstverständnis und Angebot vieler Religionen entspricht, Lösungen, ja gar Erlösung zu bringen.

Doch gehen wir einen Schritt zurück:
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von «Religion» sprechen?

Grosse geisteswissenschaftliche Forschungsverbünde arbeiten sich bekanntlich während der ersten Monate ihres Bestehens an Begrifflichkeiten und deren gemeinsamem Verständnis ab. Das ist unentbehrliches Fundament interdisziplinärer Kollaboration. Das «Religion(s)» im Titel des UFSP «Digital Religion(s)» bietet denn auch eine Bühne unendlichen Ausmasses für entsprechende Diskussionen.
Im Grunde verwenden wir unzulässige Abstraktionen, wenn wir von «Religion» sprechen. Sinnvollerweise arbeitet man aber doch, im Wissen um die Unzulänglichkeit eines jeden Begriffes, mit «Religion(s)». Doch was wissen wir schon über die zahlreichen, mehr oder weniger bekannten, Religionen? Was wissen wir über die eigene, der wir mehr oder weniger angehören. Oder, alltäglicher: Wer lebt so, wie es die «eigene» Religionsgemeinschaft vorgibt – wenn wir vom entsprechenden Vorhandensein klarer Vorgaben einmal ausgehen? Und wer hat seine/ihre Weltperspektive und Lebensgestaltung längst so zurechtgelegt, dass man vielmehr von einer Religions-Eigenkreation sprechen muss? Welche Theologie verbindet die Anhänger*innen der je gleichen Religionen dann noch, welche moralische Ausrichtung, welche alltägliche Lebensgestaltung, die über Feiertage hinaus geht?
Oder sind diese Fragestellungen irrelevant geworden?

Weltweit gesehen, gehört die Mehrzahl der Menschen einer Religion an. Während man in Europa in den vergangenen Jahrzehnten eine Tendenz zur Abkehr institutionengebundener Religionszugehörigkeit feststellen kann, zeigt sich die globale Dynamik anders: Die Anzahl der Religiösen nimmt zu. Wie auch immer dies gedeutet wird: Es besteht vielfältiger Anlass, die säkularisierungstheoretische Annahme des historischen Verschwindens der Religion umfassend in Frage zu stellen. Und selbst diejenigen, die sich als Konfessionslose, als Agnostiker*innen, Atheist*innen oder Areligiöse bezeichnen, dürfen sich die Frage stellen, wieviel Quasireligion in ihre Nichtreligion verwoben ist. «Ebensowenig wie der Religiöse dem Nicht-Religiösen seine religiöse Deutung seiner Erfahrungen als logisch zwingend aufnötigen kann, kann der Nicht-Religiöse seine nichtreligiöse Deutung als einzig rational mögliche verfechten.» (Hans Joas)

Die persönliche Beschäftigung mit Religionen ist in unseren Breitengraden optional geworden.
Nicht optional ist: Wir haben jene – theoretischen und praktischen – Initiativen zu unterstützen, die den interreligiösen und interkulturellen Dialog anstreben. 

Klar gilt:
Religionen stellen Weisheitstraditionen zur Verfügung, die ethisch, poetisch, mythologisch inspirierend sind. «Religiöse Traditionen und Institutionen stellen (…) nicht nur reiche Repertoires zur Deutung unserer Erfahrungen der Selbsttranszendenz dar; sie machen solche Erfahrungen auch erst möglich. Sie enthalten ein Wissen gewissermassen körperlicher Art, wie wir uns bereit machen können zu solchen Erfahrungen – durch Askesetechniken etwa, durch den Einsatz körperlicher Haltungen wie des Kniens zum Beispiel, durch gemeinsames Singen und Musik.» (Hans Joas)

Ebenso klar gilt auch:
Religionen sind allerdings per se nicht domestizierbar, sie lassen sich nicht ohne weiteres einhegen – etwa durch menschenrechtliche Rahmenbedingungen. Denn Religion unterbricht auch, bricht ein, in das Angenehme, in privat oder gesellschaftlich Unhinterfragtes. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Weltzugang, mit der eigenen geistigen Situation und jener der Gesellschaft greift in das Leben ein, ist stets auch existentiell. Und damit enthalten Religionen per se auch individuums- und gesellschaftsgefährdenden Zündstoff.
Die Tatsache, dass seit kurzem in Köln der Muezzin zum Freitagsgebet rufen darf, lässt nun auch Kritiker*innen laut rufen. Das Signal der religionsbezogenen Gleichberechtigung kämpft mit Vorbehalten und Ängsten vor islamistischer Bedrohung. 

Inspiration aus religiösen Weisheitstraditionen darf gelebt werden. In konkretem Rahmen: Die Menschenrechte stehen über den Religionen, in demokratischem, säkularem Staat. Aufgeklärte Religion, Religion, die nicht allzu laut ruft, ist genehm. 
Dies ändert übrigens das Verständnis und die Substanz des Religiösen: Viele Juden und Jüdinnen, Christ*innen, Muslime und Muslima, Bahai und weitere haben Wege kreiert, über die Jahrhunderte, mit nicht genehmen Themen in ihren Heiligen Büchern umzugehen: Man überliest gerne jene Abschnitte, in denen Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau fern ist oder in denen Homosexualität als nicht erlaubt bezeichnet wird. Man fokussiert sich auf gegenwarts-kompatible Kernthemen, relativiert andere Abschnitte in ihrer Gegenwartsbedeutung. Aus Sicht eines historisch-kritischen Theologieverständnisses, aus menschenrechtlicher Sicht ist dies angemessen.
Aber es sind Deutungen. Die eben auch anders erfolgen können. 
Nicht Religionen an sich, aber deren Anhänger*innen, können fundamentalistisch werden. Auch jene, die sich «Religionsfreiheit» auf die Flagge schreiben. Wie viele Vertreter*innen des (transreligiösen) Nächstenliebegebots fragen sich in so mancher politischen Situation, wieviel Gewalt dem Fremden gegenüber dann doch zulässig oder notwendig sei? Erst in konkreten Situationen zeigt sich die komplexe Schwierigkeit des Interreligiösen.

Wir haben jene – theoretischen und praktischen – Initiativen zu unterstützen, die den interreligiösen und interkulturellen Dialog anstreben. Oder, weiter noch, den trans- und metareligiösen Dialog.

Denn Fakt ist: Das Trennende verläuft oft nicht zwischen Gottgläubigen und Atheist*innen. Das Trennende verläuft vielmehr zwischen naturalistischen «Predigenden» und ebenso auch Religiösen, deren Glaube zu hartem, starrsinnigem Dynamit geronnen ist, einerseits – und auf der anderen Seite den «atmenden» Theologisierenden, den ebenso offen wie schöpferisch Suchenden, die das Unsagbare im Sagbaren (Cornelius Castoriadis) und das Unsichtbare im Sichtbaren (Maurice Merleau-Ponty) mithören und mitlesen. «Hans Küng, Richard Dawkins und der Dalai Lama wären sich vielleicht in grundlegenden Fragen der Ethik und der Spiritualität einig. Die einen mit, die andern ohne Gott.» (Martin Kunz) Die Logik des «Inter» ist nur halb richtig. Das Trans- und Metareligiöse ergänzen das Interreligiöse längst, insofern damit die Kategorien des Religiösen und Interreligiösen überschritten, Querverbindungen betont, Hybridbildungen wertgeschätzt werden. 

Was machen nun die akademischen Theologien hier, die Religionswissenschaft, die Ethnologie, weitere religionsbezogen forschende Geistes- und Sozialwissenschaften? Liefern sie einen Beitrag zur positiven Veränderung der Welt? Können Utopien und Weisheitslehren wissenschaftlich erforscht, analysiert, begründet weiterentwickelt werden? Haben Geistes- und Sozialwissenschaften das Potenzial, die Welt aktiv mitzugestalten und zu verändern? 
Der UFSP «Digital Religion(s)» antwortet hier mit einem klaren Ja. Er richtet sich mit seinen vielzählige Forschungsprojekten an religionsbezogene Fragen der Gegenwart und Zukunft.

Was könnten die Codes sein für inter- und transreligiöses (Zusammen-)Leben in der Zukunft?
Und wie verändern sich diese in hybriden und digitalen Kontexten?
Welche transreligiösen Bilder, Narrative, Emotionalitäten lösen die bis heute virulenten existenziellen Fragen und Hoffnungen ab – oder erfüllen sie?


Die Forschung vom UFSP-Projekt 9 Interreligiöse Herausforderungen und interreligiöses Lernen in der digitalen Gesellschaft in pädagogischen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten hält auf dem Laufenden.

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