Digital Religion(s): Der Blog

Online-Gedenken und Theologie

30. Mai 2022 | Lea Gröbel | Keine Kommentare |

Online-Gedenkseiten und virtuelle Friedhöfe

Wenn ein Mensch stirbt, bleiben jene, denen dieser Mensch in seinem Leben nahe war, oft fragend und trauernd zurück. Die Trauer um die verstorbene Person wird für viele Hinterbliebene zu einer raumgreifenden Erfahrung. Der Raum, den diese Trauer einnimmt, verändert sich zwar mit der Zeit. Dass er mit den Wochen, Monaten und Jahren nach dem Tod aber kontinuierlich kleiner wird und sich irgendwann ganz auflöse, trifft nur für manche zu. Die Erinnerungen an die Verstorbenen bewusst zu gestalten, kann im persönlichen Trauer- und Gedenkprozess zu einem wichtigen Mittel im Umgang mit dem Tod werden. Seit etwa drei Jahrzehnten bieten sich hierfür auch online verschiedene Möglichkeiten.

Die Anfänge solcher Online-Gedenkpraktiken fallen mit den Anfängen der immer breiteren öffentlichen Nutzbarmachung des Internets zusammen. Bereits in den 1990er Jahren kommen erste sogenannte virtuelle Friedhöfe auf, seit Ende der 1990er Jahre werden sie aus soziologischer Perspektive beschrieben. Unterschiedliche Portale wie soulium.de bzw. strassederbesten.de oder gedenkseiten.de bieten Hinterbliebenen nach einem Trauerfall die Möglichkeit, ein personalisiertes Gedenkprofil oder auch ein virtuelles Grab einzurichten. Die Gestaltungsarten der Gedenkprofile unterscheiden sich je nach Angebot der verschiedenen Portale. Häufig erinnern die Einzelgedenkseiten an Profile aus Sozialen Medien. Die Erstellung eines Gedenkprofils erfordert als persönliche Mindestangaben zur verstorbenen Person meist deren Namen und Lebensdaten. Zudem gibt es in der Regel die Möglichkeit, einen Nachruf zu gestalten.

Nachruf auf einer Online-Gedenkseite

In diesen Nachrufen erzählen die Hinterbliebenen häufig von ihren Erinnerungen an die verstorbene Person. Manche fügen an dieser Stelle auch Fotos aus dem Leben der Verstorbenen oder von deren physischen Friedhofsgräbern ein. Dieser Teil der Gedenkprofile variiert je nach Nutzungsverhalten derjenigen, die das Profil angelegt haben. Er kann einen einmaligen, sehr kurzen Eintrag darstellen, der an Traueranzeigen in Zeitungen erinnert. Teilweise enthält er nur den aus den persönlichen Angaben automatisch generierten Satz und den Text der Eingabemaske, der beim Erstellen der Gedenkseite nicht bearbeitet wurde. Teilweise wird die Option, einen persönlichen Nachruf zu verfassen, aber auch ausgiebig genutzt. Dies geschieht dann bis hin zu tagebuchartigen, immer wieder aktualisierten Einträgen, die über einen langen Zeitraum hinweg entstehen. Diese Art der Nutzung lässt vermuten, dass das Profil zu einem Artikulationsmedium über den häufig viele Jahre andauernden Prozess des Trauerns und Gedenkens wird.

Ähnlich kann das Anzünden von virtuellen Kerzen genutzt werden, das ein weiteres Element der Profile darstellt. Der virtuell angezündeten Kerze kann eine Nachricht beigefügt werden, die meist entweder als Kondolenz an die Hinterbliebenen gerichtet ist oder die Verstorbenen selbst adressiert. Da somit auch die Kerzen für Beileidsbekundungen genutzt werden, überschneidet sich deren Gebrauch mit der Rubrik des Kondolenzbuches. Neben diesen profil- und forumsartig gestalteten Gedenkseiten, finden sich außerdem solche, die in einen sogenannten virtuellen Friedhof eingebettet sind. Hier kann die Gedenkseite, die in der Optik einer Grabstätte gestaltet ist, auf einem der unterschiedlichen Friedhöfe platziert werden. Diese sind entweder einer konkreten Religion zugeordnet, an Naturerscheinungen angelehnt („Feld der Ewigkeit“) oder beziehen sich auf eine bestimmte Gruppe von Todesfällen (z.B. Sternenkinder)

Grabstätte auf einem Online-Friedhof

Allerdings fällt hier besonders die stark unzeitgemäss anmutende Grafik der virtuellen Friedhöfe auf. Auch über die Bezeichnung der einzelnen Friedhöfe und deren Aussehen kann man sich wundern. Der „Berg der Ruhe“ sieht beispielweise eher aus wie eine karibische Insel.

Die unterschiedlichen Online-Gedenkseiten sind auch heute noch in Gebrauch, wie die sich ständig nach oben aktualisierenden Zahlen der Webseiten zu den eingerichteten Gedenkprofilen und deren Besucher:innen zeigen. Allerdings scheint das Gedenken an Verstorbene heute nicht mehr allein auf spezifisch zu diesem Zweck eingerichteten Webseiten stattzufinden. Vielmehr wird auf Social Media neben deren zahlreichen anderen Nutzungsmöglichkeiten auch Trauer und Gedenken um Verstorbene zum Ausdruck gebracht.

Gedenken auf Social Media: #trauer auf Instagram

Die Formen des Gedenkens, die jenen der Gedenkseiten am stärksten ähneln, finden sich heute vor allem auf Instagram. Unter dem Hashtag Trauer werden gegenwärtig über 400.000 Beiträge geteilt, die Zahl steigt täglich an. Dabei stammt der Großteil der Beiträge von Bestattungs- und Floristikunternehmen, Trauerbegleitungs- oder Coachinganbieter:innen. Dazwischen finden sich jedoch auch zahlreiche Beiträge, in denen einem verstorbenen Menschen gedacht wird. Diese variieren in ihren Ausgestaltungen auf einem ähnlichen Spektrum wie die Einträge der Gedenkseiten. Wie bei den Nachrufen der Online-Gedenkseiten posten manche Trauernde Bilder aus dem Leben der Verstorbenen, andere verwenden Fotos von Gräbern, des Himmels oder der Natur. Auch finden sich Bilder der Personen, die einen Beitrag unter dem Hashtag Trauer geteilt haben. Diese zeigen die postende Person meist entweder mit der verstorbenen Person in einem gemeinsamen Erinnerungsfoto oder in einem Selfie. Letzteren sind häufig ausführlichere persönliche Texte zum erlebten Tod der nahestehenden Person und dem dadurch ausgelösten Trauer- und Gedenkprozess beigefügt. Hier gibt es also eine ähnliche inhaltliche Ausgestaltung der Beiträge wie auf den Gedenkseiten. Kondolenzen und Anteilnahmen werden meist über die Kommentare geteilt. Hier finden sich gegenüber ausformulierten Beileidsbekundungen vor allem einzelne Emojis wie ein Herz oder eben eine Kerze.

Instagramposts zum Hashtag #trauer

Online-Gedenken als Anknüpfungspunkt für die Theologie

Während besonders in den Sozial-, Kommunikations- und Medienwissenschaften und in der Linguistik schon vermehrt digitale Praktiken des Trauerns und Gedenkens beschrieben wurden, finden sich bisher nur wenige theologische Beiträge zu diesen Phänomenen. Dabei bilden der Umgang mit dem Tod und sich daran anknüpfende Vorstellungen von einem möglichen Leben nach dem Tod einen Kernbereich christlicher Theologie. Seit ihrer lehrmäßigen Ausbildung beschäftigt sie sich im Rahmen der Eschatologie (gr. ta éschata – die letzten Dinge) mit dem Ende des individuellen Lebens und dem Ende aller Lebenszeiten, also dem Ende der uns bekannten Welt. Der lebensweltliche Anknüpfungspunkt für diese Reflexionen bildet dabei die Erfahrung des Todes im jetzigen Leben. Als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen kann diese Erfahrung natürlich nie die des eigenen Todes sein. Vielmehr ist es immer die Erfahrung des Sterbens von anderen Menschen, die für viele Menschen Fragen nach dem Verbleib der Verstorbenen auslöst. Besonders konkret und auch schmerzvoll erfahrbar wird der Tod, wenn eine nahestehende Person stirbt. Eben diese Erfahrung und der Umgang damit wird wiederum in Zeiten der Digitalisierung auf Social Media wie Instagram oder auch auf den persönlichen Gedenkprofilen sichtbar, wenn Hinterbliebene hier ihre Trauer und ihre Erinnerungen an die Verstorbenen zum Ausdruck bringen. Daher bieten gerade diese Online-Gedenkpraktiken einen aktuellen empirischen Einstiegspunkt für theologische Überlegungen im Bereich der Eschatologie.

Online-Gedenken in theologischer Perspektive

Die Möglichkeiten zur digitalen, öffentlichen Kommunikation im Internet bewirken, dass Vorstellungen von Menschen von einem möglichen Leben nach dem Tod leichter zugänglich sind, sofern sie diese in ihrem Gedenken an Verstorbene online zum Ausdruck bringen. Diese veränderte Zugänglichkeit bietet allerdings nicht nur eine neue empirische Forschungsgrundlage. Vielmehr scheint die zunehmende Digitalisierung mit Blick auf das Lebensende und das Totengedenken auch Ideen einer neuen Möglichkeit des digitalen Überlebens hervorzurufen. So gibt es Vorstellungen, dass durch die Digitalisierung, Speicherung und dauerhafte Auf- und Abrufbarkeit von Lebensdaten digitale Unsterbliche erschaffen werden könnten. Auch wird Online-Gedenken als eine raumzeitliche Entgrenzung des Totengedenkens interpretiert, durch die ebenfalls eine überdauernde und quasi allgegenwärtige digitale Verfügbarmachung der Toten entstehen kann.

Aus theologischer Sicht lassen sich gegenüber diesen Auffassungen zwei Schneisen benennen, in denen sich Interpretationen von Online-Gedenkpraktiken künftig bewegen könnten.

Erstens ist christlich-theologisch von einem Leben nach dem Tod nicht in rein individueller – oder sogar individualistischer – Perspektive auszugehen. Wenn theologisch über ein Leben nach dem Tod nachgedacht wird, meint dies nicht einfach das Einzelleben für sich genommen im Sinne eines egoistischen Über- oder Ewiglebensglaubens wie es in der Idee der digitalen Unsterblichkeit anklingt. Stattdessen ist theologisch anzunehmen, dass das einzelne Leben auch nach seinem Ende – wie im irdischen Leben – erneut in eine Gemeinschaft mit anderem Leben eingebettet ist. Aus theologischer Sicht erscheinen daher besonders Ausdrücke wie „wir werden uns irgendwann wiedersehen“ oder „grüß Oma“ interessant, die sich häufig in Online-Gedenkposts finden. Sie lassen auf Vorstellungen einer lebendigen Gemeinschaft nach dem Tod schließen, die theologisch anschluss- und interpretierfähig sind.

Dass digitale Spuren menschlichen Lebens den Glauben an eine neue, andere Form menschlichen Überlebens hervorbringen, die überzeitlich oder gar digital unsterblich sei, lässt sich dagegen anhand der beschriebenen Gedenkpraktiken bisher nicht beobachten.

Eine umfassende Verlagerung von Jenseitsvorstellungen in die Potenziale von digitalen Medien ist in diesen Praktiken derzeit also nicht fassbar. Dafür werden an ihnen – zweitens – spannungsreiche Vorstellungen manifest, die vor allem die Verortung und Verkörperung der Verstorbenen wie auch der Hinterbliebenen betreffen. Online zeigt sich noch einmal neu, was auch offline im Kontext von Trauern, Gedenken und Erinnern um Verstorbene eine präsente Frage ist: Wo sind die Toten eigentlich? Weil darauf keine abschließende Antwort gegeben werden kann, wird die Frage umformuliert werden müssen: Wo stellen wir uns vor, sind die Toten? Und was kann, als Aufgabe der Theologie, aus der christlichen Tradition dazu gesagt werden? Für diese Fragen erscheint zum Beispiel die häufige Formulierung „Du bist für immer in meinem Herzen“ interessant. Was für eine Jenseitsvorstellung drückt sich in dieser Aussage aus? Und steht sie als Ortsangabe in Spannung zu einem Bild, das den Himmel oder einen Friedhofsausschnitt zeigt?

Für diese Fragen bietet die Praxis des Online-Gedenkens und sich darin artikulierende Vorstellungen von einem möglichen Leben nach dem Tod viel Material. Daran können theologische Diskurse zur Eschatologie anknüpfen. Andersherum kann auch die Theologie beim Blick auf Online-Gedenkpraktiken eine Perspektive einbringen, die Interpretationen dieser Phänomene als ein individuelles digitales Überleben oder eine völlige Entgrenzung des Totengedenkens in Frage stellt. Demgegenüber bietet sie eigene Deutungen von einem gemeinschaftlichen Fortbestehen in einem ewigen Leben an.


Blogartikel von Lea Gröbel, UFSP Projekt 2, Eschatologische Raumsemantiken digitaler Friedhöfe

Abgelegt unter: Projektvorstellung
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