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Trauerkommunikation im Internet – die linguistische Perspektive

23. Juni 2022 | Christina Siever | Keine Kommentare |

Wie bereits im letzten Blogbeitrag gezeigt wurde, findet Trauerkommunikation heutzutage auch online statt. Wir befassen uns nun aus linguistischer Sicht mit diesem Phänomen. Unter Trauerkommunikation verstehen wir sowohl sprachliche als auch multimodale (d. h. Text und Bild umfassende) Praktiken, hinter denen eine grosse Niedergeschlagenheit und Traurigkeit steht. Es gibt viele Anlässe, die solche Trauergefühle hervorrufen; im Folgenden liegt der Fokus auf dem Trauern um verstorbene Personen.

Forschungsfragen

In unserem Projekt „Trauerpraktiken im Internet“ wird einerseits untersucht, wie Menschen ihre Trauer sowie Beileidsbekundungen im Internet zum Ausdruck bringen, andererseits aber auch, wie diese Art des Trauerns im öffentlichen Diskurs verhandelt wird. Um die erste Forschungsfrage beantworten zu können, erstellen wir Korpora mit Daten, die von Online-Gedenkseiten und aus den sozialen Netzwerken stammen (Twitter, Instagram).

Ausschnitt aus der Datenbank

In der Analyse wird herausgearbeitet, welche sprachlichen Muster auftreten und wie die Trauer multimodal zum Ausdruck gebracht wird (z. B. über Bilder oder Emojis).
Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage haben wir Medienberichte zu Online-Trauerpraktiken (z.B. Zeitungsartikel) gesammelt. Eine Auswahl davon zeigt die folgende Abbildung.

Schlagzeilen zu Online-Trauerpraktiken

In diesem Diskurs geht es immer wieder um das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem, aber auch beispielsweise um die Frage, wie es zu beurteilen ist, dass Trauernde Fotos von den Verstorbenen ins Internet stellen.
Im Folgenden befassen wir uns mit der ersten Forschungsfrage und werden dazu weitere Informationen geben.

Analoge versus digitale Trauerkommunikation

Warum wird eigentlich online getrauert? Dafür gibt es einige Motive. So sind im digitalen Raum Praktiken möglich, die analog nicht denkbar sind – das gilt auch für das Trauern. Gerade bei Todesfällen mit tragischen Schicksalen, beispielsweise beim Tod von Kindern, bei Unfällen oder beim Verlust eines Menschen durch eine schwere, vielleicht seltene Krankheit, kann es für Hinterbliebene tröstlich sein, sich mit anderen Menschen mit gleichem Schicksal auszutauschen – und diese findet man online oftmals leichter als offline. Zudem ist die analoge Trauer meist begrenzt, auf bestimmte Situationen wie Beerdigungen und das Verfassen von Traueranzeigen und Kondolenzschreiben bezogen; das Digitale bietet hier viel mehr Möglichkeiten. Dazu kommt, dass in unserer Gesellschaft meist nur eine begrenzte Zeit der Trauer als üblich angenommen wird. Online gibt es diesbezüglich kaum Grenzen; oftmals wird jahrelang auf einer Gedenkseite immer wieder etwas gepostet, um die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen zum Ausdruck zu bringen. Dadurch wird für die verstorbene Person eine Gedenkstätte geschaffen, die man ähnlich wie ein Grab besuchen kann. Zugleich wird dadurch der Trauerprozess sowie die Beziehung zum Verstorbenen dokumentiert. Auch wird oft virtuell mit den Verstorbenen selbst kommuniziert, vor allem an besonderen Tagen wie dem Geburtstag oder Todestag. Das zeigt sich auf der sprachlichen Ebene beispielsweise durch den sehr häufigen Gebrauch des Anredepronomens du.
Online wird aber nicht nur individuell um Nahestehende getrauert, sondern auch um Personen, die den Trauernden nicht persönlich bekannt sind (z. B. Prominente). Dabei handelt es sich um eine Art der kollektiven Trauer. Oft werden solche Trauerbekundungen über die sozialen Netzwerke verbreitet, viele Menschen schliessen sich an. Das ist z. B. dann der Fall, wenn Menschen Opfer von tragischen Ereignissen wie Terroranschlägen oder Unfällen wurden und in den sozialen Netzwerken auf diese Weise Solidarität und Mitgefühl zum Ausdruck gebracht wird.

Digitale Trauerkommunikation

Die Unterscheidung zwischen individuell-beziehungsbasierter und kollektiver Trauer schlägt sich in der Art der Trauerkommunikation nieder. In den kommunikativen Praktiken rund um die kollektive Trauer haben sich Hashtags wie #RIP oder #prayfor etabliert, mit denen man sich als zu einer Trauer-Community zugehörig ausweist. Bekannt geworden sind beispielsweise die Hashtags #JeSuisCharlie #IchBinEinBerliner #BostonStrong, #PrayForMunich, #PrayForBerlin oder #SeinNamewarAlex, die auf unterschiedliche Ereignisse Bezug nehmen, in ihrer Ausgestaltung aber bereits eine Musterhaftigkeit erkennen lassen (z.B. Je suis XY, Pray for XY). Und auch bei der individuell-beziehungsbasierten Trauer gibt es bestimmte Hashtags wie #dufehlst oder #fürimmerimherzen, mit denen man sich in einen Trauerdiskurs einschreiben kann.

Tweet zum Terroranschlag am Berliner Weihnachtsmarkt

Je nachdem, wie sich die digitale Trauerkommunikation gestaltet, können die damit verbundenen Praktiken als eine Form der religiösen Kommunikation betrachtet werden. So findet man auf Online-Gedenkseiten sowohl verbale als auch multimodale Hinweise auf religiöse Kontexte (z. B. virtuelle Kerzen als Grablichter). Allerdings ist die religiöse Funktion oft verblasst bzw. die religiöse Herkunft dieser Symbole den Trauernden möglicherweise unbekannt. Doch auch dann kann es sein, dass die Religion einen wichtigen Referenzpunkt zur Bewältigung von Trauer bietet.
Bezüglich der Multimodalität fällt weiter auf, dass in der individuellen Trauerkommunikation auf Gedenkseiten oftmals die sogenannte ASCII-Art zum Einsatz kommt. Ein Kreuz wird bei dieser Darstellungsweise beispielsweise durch die entsprechende Anordnung von Buchstaben und Ziffern dargestellt. Eine andere Möglichkeit ist, dass Emojis mit dem Text kombiniert werden. Dabei kann es sich um Gesichtszeichen handeln, aber auch um Emojis, die Personen oder Objekte darstellen (z. B. eine Kerze). Im Projekt wollen wir diese und andere Text-Bild-Relationen untersuchen und so die digitale Trauerkommunikation in all ihren Facetten aus linguistischer Sicht beschreiben.

Religiös geprägte ASCII-Art auf einer Online-Gedenkseite

Beispiel: Trauern um Sternenkinder

Um die oben genannten Aspekte zu veranschaulichen, betrachten wir nun, wie im Internet um Sternenkinder getrauert wird. Sternenkind ist ein euphemistischer Ausdruck für Kinder, die vor oder (kurz) nach der Geburt versterben. Bei der Etablierung dieses Neologismus spielten Online-Foren eine tragende Rolle; erstmals tauchte das Wort zu Beginn der 1990er-Jahre im Internet auf. Im Rahmen unseres Projekts wurden Tweets gesammelt, welche die Zeichenfolge sternenkind enthalten. So entstand ein Korpus mit 11’488 Tweets. Die folgende Abbildung zeigt, welche Hashtags (abgesehen von #sternenkind) in diesen Tweets am häufigsten vorkommen. Besonders frequent ist der Hashtag #trauer, gefolgt von #fehlgeburt und #sterneneltern. Das verwundert nicht: Zum einen ist die Trauer bei der Kommunikation über Sternenkinder ein zentrales Thema aller Tweets. Zum andern wird die Fehlgeburt häufig als Todesursache genannt. Und schliesslich positionieren sich die Verfassenden auf diese Weise häufig als die Eltern des Sternenkinds (so auch im Hashtag #verwaisteeltern).

Hashtags zum Trauern um Sternenkinder

Mit dem Hashtag #dufehlst wird das verstorbene Kind selbst direkt angesprochen. Erwähnt werden soll auch der Hashtag #liebe auf Rang 15, was zeigt, wie sehr die Trauer um Sternenkinder mit dieser Emotion verbunden ist. Der Hashtag #worldwidecandlelighting verweist auf die gleichnamige Initiative eines jährlichen Weltgedenktags für verstorbene Kinder.
Die verwendeten Hashtags in unserem Korpus entsprechen einer typischen Long-Tail-Verteilung. Dies bedeutet, dass im Kontext von Sternenkindern wenige Hashtags sehr häufig und viele Hashtags sehr selten verwendet werden. Hinter den Hashtags stehen Tweets des Trauerns und Gedenkens, sie dienen aber auch der Auffindbarkeit im Netz (sogenanntes Social Tagging) und der Gemeinschaftsbildung.

Kommen wir zum Schluss zu den Emojis, die in den Sternenkinder-Tweets aus unserem Korpus verwendet werden. Weiter unten sehen wir dazu eine Grafik. Auch hier gibt es eine Long-Tail-Verteilung. Ähnliche Ergebnisse zeigen Auswertungen anderer Studien (z. B. zu Instagram); es scheint so, dass sich in diesem Kontext trauerspezifische Emojis etabliert haben, die plattformübergreifend genutzt werden. In der Grafik fällt weiter auf, dass verschieden gestaltete Sternensymbole vorkommen (auf den Rängen 1, 3, 8, 12 und 13). Auch diverse Herzsymbole werden verwendet (insgesamt acht, auf den Rängen 2, 4, 9, 10, 15, 16, 18 und 20), darunter z. B. die Darstellung eines gebrochenen Herzens (Rang 8), ebenso drei traurige Gesichtszeichen (auf den Rängen 5, 6 und 7) – aber auch ein lachendes Gesicht (Rang 19). Als religiöse Symbole können die Kerze auf Rang 14 und die gefalteten Hände auf Rang 17 interpretiert werden. Der Regenbogen auf Rang 11 ist ein Symbol, das häufig im Kontext verstorbener Haustiere verwendet wird (die über die Regenbogenbrücke gegangen sind); im Zusammenhang mit Sternenkindern hat der Regenbogen aber eine andere Bedeutung: Ein Kind, das nach einem Sternenkind geboren wird, nennt man Regenbogenkind.

Emojis in den Sternenkinder-Tweets

Ausblick

Wird künftig anders getrauert werden als heutzutage? Wird die digitale Trauerkommunikation an Bedeutung gewinnen? Wie wird sie sich verändern? Das sind Fragen, die nur in der Zukunft beantwortet werden können. Um dann aber einen Vergleich zu früheren Trauerpraktiken im Internet zu haben, ist es wichtig, dass zum jetzigen Zeitpunkt der Status Quo erfasst wird. Auch das wollen wir mit unserem Projekt leisten – und damit die Grundlage für weitere Forschung schaffen.


Blogartikel von Christina Siever, UFSP Projekt 1, Trauerpraktiken im Internet

Abgelegt unter: Projektvorstellung
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