Heroismus II

Heroismus II

ROBERT FALCON SCOTT UND STEFAN ZWEIG 
von Lucas Cavelti

Kapitän Scott, Letzte Fahrt

Mit Robert Falcon Scotts Letzter Fahrt gewinnen wir nach den 21 Meilen vom Südpol von Shackleton einen weiteren textlichen Einblick in eine (gescheiterte) Polarexpedition. Der Text besteht aus Tagebucheinträgen, die durch Kapitel organisiert werden. In den Auszügen steigen wir im Lager 57 am 4. Januar 1912 ein – 13 Tage, bevor Scott und seine Gefährten den Südpol erreichen werden. 

Geprägt sind die Textpassagen durch ihre Füllmenge an numerischen Daten, denn fast täglich werden Windstärke, aktuelle Koordinaten, Tagestemperatur und zurückgelegte Strecke – von welcher der Erfolg abhängt – vermerkt. Durch Mikrorückwege, beispielsweise um einen vom Schlitten gefallenen Schlafsack zu holen, ist der Hinweg nicht linear, es wird zur gleichen Zeit zurückgegangen und weitergefahren. Shackletons letztes Lager markiert den Raum, es gibt ein räumliches Davor und ein Danach, nach der höchsten Leistung der Shackletonexpedition folgt Neuland. 

Schliesslich stösst Scotts Expeditionstrupp auf die Spuren Amundsens und findet heraus, dass dieser bereits knapp einen Monat früher am Pol war. Diese Entdeckung des schon entdeckten Pols machen sie zuerst in einem weit entfernten, schwarzen Fleck aus, der sich beim Näherkommen als schwarze Markierungsflagge Amundsens entpuppt. Das Erreichen des Pols und das Auffinden der Flagge der Norweger, neben welche sie «den armen, zu spät gekommenen ‚Union Jack‘» (S. 311) aufstecken, markiert eine Zäsur. Schon graut es Scott vor dem Rückweg, und für die zu spät Gekommenen gibt es am Pol «nichts zu sehen – nichts, was sich von der schauerlichen Eintönigkeit der letzten Tage unterschiede.» (S. 310) Fahnen und Flaggen kerben als Lagermarkierungen oder Wegmarken den glatten Polarraum und gipfeln in der symbolischen Funktion der Nationalflagge als menschlicher Markierung des Raums. Eroberung und Inbesitznahme sind wiederkehrende Topoi einer kolonialistischen Rhetorik und die Erkenntnis, nicht die ersten am Pol gewesen zu sein, vermerkt Scott als «das schlimmste, was uns widerfahren konnte!» (S. 308) Schlimmer noch als der Tod, der ihnen auf dem Rückweg droht? Als ebenjenes Ende langsam eintritt, wird zu schreiben und nicht schreiben zu können thematisch, die Finger werden starr und in diesem Grenzgang decken sich Shackleton und Scotts Erfahrungen. Konkret vollzieht Scott auf der letzten Seite seines Tagebuchs mit «I do not think I can write more –» (S. 361)  den sprachlichen (Lebens-)Abbruch – interessanterweise findet in diesem Abbruch zugleich eine Öffnung statt, denn auf diese Zeile folgt sowohl seine Unterschrift als auch ein Postskriptum.

Stefan Zweig, Der Kampf um den Südpol

Die 1914 erstmals erschienene historische Miniatur wendet sich, nach einer mit Der Kampf um den Südpol betitelten Einleitung bzw. Verortung, Scotts Terra-Nova-Expedition zu. 

Autorschaft

Scotts Letzte Fahrt wird hier zum Intertext und führt zum Problem der Autorschaft. Wer schreibt? 

«Denn wo sie vollendet gestaltet, bedarf die Geschichte keiner nachhelfenden Hand, sondern einzig des ehrfürchtig darstellenden Worts.» (S. 9)

Aus diesem Vorwort Zweigs, das die Geschichte als grösste Dichterin und Darstellerin bezeichnet, können wir zwei Lesarten für Geschichte, nämlich als Narratio und als historische Tat, folgern. Zweig inszeniert Autorschaft als Verfasserschaft des Schreibers und tritt in dieser Miniatur als schwacher Verfasser zurück. In diesem Spiel der Autorschaft, in welchem Dichtung die bessere Geschichtsschreibung wird, ist Erzählen bei Zweig zunehmend eine Leseszene von Scotts Letzte Fahrt. Angesiedelt in dieser Zwischenposition gewinnt das nicht ganz so Literarische das Potenzial, zur grössten englischen Dichtung zu werden. In Der Kampf um den Südpol ist Scott ein Held als Literat und weniger als Entdecker. Erst die Briefe, Tagebucheinträge und Fotografien, aus dem Eis in die Welt hinausgetragen, machen Robert Scott zum Helden und lassen ihn als solchen «überleben». Zweig schreibt sich am Text von Scott entlang und macht sich so intertextuell selbst zum Helden. Aus der schwachen Verfasserschaft bezieht Zweig über sein Textverfahren und die Inszenierungsgesten zuletzt eben doch eine starke Autorschaft. 

Die Geschichte der Polarreisen ist auch eine Geschichte der Medien von Polarreisen. Im Fokus auf das Auffinden und Bergen der Tagebücher Scotts findet eine Medienreflexion statt. Einerseits ist es die aus dem Eis geborgene Schrift, andererseits die «farblosen Platten», projizierte Bilder in die Eisfläche, welche das Ungeschaute nach Europa bringen, durch komplementäre Blickachsen Totes beleben und die Taten auferstehen lassen. 

Heroismus

«Das zwanzigste Jahrhundert blickt nieder auf geheimnislose Welt. Alle Länder sind erforscht, die fernsten Meere zerpflügt. […] Schon sucht sich der forschende Wille neuen Weg, hinab zur phantastischen Fauna der Tiefsee muss er steigen oder empor in die unendliche Luft. […] Aber ein letztes Rätsel hat ihre Scham noch vor dem Menschenblick bis in unser Jahrhundert geborgen, zwei winzige Stellen ihres zerfleischten und gemarterten Körpers gerettet vor der Gier ihrer eigenen Geschöpfe.» (S. 62)

Die Exposition malt ein eindeutiges Bild, personifiziert die Natur in der Funktion als Helferin und Gebeutelte des Fortschritts und macht die Erde zum vom Entdeckertum zerfleischten Kadaver der Welt. Nur die Ebenen ausserhalb des zweidimensionalen Koordinatensystems sind noch unerschlossen – und die Pole. Diese rücken hier neben Raumfahrtsphantasmen in nahezu extraterrestrisches Gebiet. Wie wird Kolonialisierung verhandelt? Männliche Eroberer kolonisieren weiblich codierte Räume. Mit der Sprengung des jungfräulichen Gürtels von Tibet treibt Zweig diese Symbolik auf die Spitze. Die sexuelle Fantasie macht auch vor den weiblich codierten Polen nicht halt. Es wird zudem ein Weltbild geschaffen, das einer Fortschrittsideologie und einem Wettkampf der Nationen unterliegt.

Der erklärte Pazifist Stefan Zweig verfällt hier teilweise in eine Rhetorik, die später eine völkische sein wird. Er scheint aus den Ideologien gar nicht heraus zu kommen, muss diese gebrauchen, um die Polarregionen zu beschreiben. Dieser Widerspruch tritt auf, wo Scott als Held verortet wird. Er ist irgendein Kapitän, eisig kalt und starr, einer von hunderten Entdeckern, und sein Gesicht rückgespiegelt von tausenden Engländern. Folgt man Zweigs Darstellung, kann also jeder ein Held sein, zumindest jeder englische Mann. Also ein Held englischer «Rasse», der den Heroismus aus dem Willen herausschöpft. Unweigerlich wirft Zweigs Beschreibung von Robert Scott die Frage auf: Ist Heldentum nur Tat oder auch schon Potentialität zur Tat?

Literatur:

  • Scott, Robert Falcon: Letzte Fahrt. Leipzig 1913.
  • Zweig, Stefan: Der Kampf um den Südpol. In: Sternstunden der Menschheit. Historische Miniaturen. Hg. v. Martina Wörgötter u. Werner Michler. Wien 2017 (= Salzburger Ausgabe, Bd. 1), S. 62–82.

Ergänzend: Thesenpapier von Nino Gubler

Titelbild: Wilson, Bowers, Evans, Scott und Oates nach ihrer Ankunft am Südpol am 18. Januar 1912.