Polargebiet postmodern

Polargebiet postmodern

CHRISTOPH RANSMAYER: DIE SCHRECKEN DES EISES UND DER FINSTERNIS
von Noemi Ferrai

„Das Kriterium der Fiktionalität kann nur bedingt zur Trennung von R[eiseroman] und Reisebericht herangezogen werden: Reiseberichte, die heute als das Zeugnis einer tatsächlichen Reise gelten, wurden lange Zeit für erfunden angesehen (Marco Polo); andererseits belegen rezeptionsgeschichtliche Zeugnisse, dass erfundene Reisen im Roman für Berichte über tatsachliche Reisen gehalten werden konnten (Th. Morus: Utopia; K. May).“ (Metzler Lexikon Literatur, S. 641)

Reisen war schon immer ein bestimmendes Thema von Christoph Ransmayr. Bereits zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn gab es Reisenotizen, deren Themen mehr als einmal die Themen seiner späteren Prosawerke waren. Sein erster Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis zeigt die wichtigen Eigenschaften eines Reiseberichts und kann somit aus der Perspektive der Genretheorie als historische Entdeckungsreise, als thematische Unterkategorie historischer Romane oder Reiseromane, verstanden werden. 

Reisebericht vs. Reiseroman

Die Menschen von heute lesen und schreiben die Heldengeschichten von gestern und fragen sich, ob es das Opfer wert ist, ihre Ziele zu erreichen. Der Wunsch, das Unbekannte zu erobern, wird deutlich. Die historischen Entdeckungsromane halten sich in einer Art Übergangszone Geschichte entdeckt, dass sich Romane in einer Übergangszone befinden: zwischen historischen Romanen und Reiseromanen. Ransmayrs Werk ist Teil dieses gemischten historischen Reiseromans. Die Bedingung für Reiseromane ist, dass das Reisen „Träger und Verursacher der Handlung“ (Honold: Ins Fremde schreiben, S. 19) ist. Die Reiseliteratur sowie die Definition des historischen Romans scheinen verwirrend. Zur Reiseliteratur gehören nicht nur die Reisenovelle und der Reiseroman, sondern auch Sachbücher. Es gibt also nicht nur die klassische „literarische“ Gattung.

Reiseliteratur: das gesamte dem Stoff nach von tatsächl. oder fiktiven Reisen berichtende Schrifttum vom Reisehandbuch oder -führer mit sachl. Angaben und Ratschlägen für Reisende […], über die wiss. Reisebeschreibung […], die autobiograph. Form (teils Tagebuch) und die dichterisch ausgestaltete Wiedergabe von Reiseerlebnissen und -erfahrungen oder Beschreibung der Zustände in fremden Ländern als unterhaltender Reiseroman bis zum humorist.-satir., utopische Zustände schildernden Staatsroman oder dem der Phantasie freien Lauf lassenden Abenteuer- und Lügenroman […] bis zur visionären Jenseitsreise […].“ (Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 676)

Die Identität des Autors lässt sich in einem Reisebericht, insbesondere in einem faktenbasierenden Reisetagebuch, relativ gut identifizieren, in einem Reiseroman ist die Trennung zwischen Autor und Erzähler jedoch wichtig.

Historische Entdeckungsreise

Auch die Repräsentation der Geschichte in den Romanen der thematischen Kategorie „historische Entdeckungsreise“ ist in Betracht zu ziehen. Die Definition des Geschichtsromans sagt, dass es sich dabei um einen Romantypus handelt, in dem eine fiktive Handlung als Bestandteil eines als Geschichte bekannten Geschehens erzählt wird. Zugleich beinhaltet der historische Roman, im Vergleich zur Geschichtsschreibung, eine Art „Vergegenwärtigung“ bzw. „Nahebringung“, sodass eine veranschaulichende Darstellung der Geschichte durch Identifikationsmöglichkeiten entstehen (Metzler Lexikon Literatur, S. 318). Die Fachprosa zu Geschichtenerzählungen, Geschichtsschreibung und der Charaktere in der historischen Belletristik sind allseitig ausführlich. Die Berührungspunkte mit dem Thema des historischen Reisens und Entdeckens sind prägnant zu definieren und zeigen, dass das Verhältnis von Gegebenheit und literarischer Qualität auch in historischen Romanen eine zentrale Rolle spielt. Die historische Textebene ist dokumentenbasiert, wodurch die „historischen Figuren“ charakterisiert werden können. Sie sind allerdings gleichzeitig literarisch, weil sie zu Figuren der literarischen Welt geworden sind (vgl. Munz-Krines: Expeditionen ins Eis, S. 13).

Vor allem

Eingeführt wird das Werk mit der Betitelung „Vor allem“. Der ursprüngliche Zweck des Vorworts eines Reisetagebuchs besteht darin, die Beweggründe der Reisen zu beschreiben. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis wird in der ersten Person Plural gesprochen und die Anrede ist persönlich.

„Was ist bloß aus unseren Abenteuern geworden […] Wir haben uns nicht damit begnügt, unsere Abenteuer einfach zu bestehen, sondern haben sie zumindest auf Ansichtskarten und in Briefen, vor allem aber in wüst illustrierten Reportagen und Berichten der Öffentlichkeit vorgelegt und so insgeheim die Illusion gefördert, dass selbst das Entlegenste und Entfernteste zugänglich sei wie ein Vergnügungsgelände.“ (Ransmayr: Die Schrecken, S. 6)

„Die Neugier geht zu Fuss“, beschreibt Honold die zitierten Zeilen Ransmayrs und deklariert die Reisenden als „Fussgänger und Läufer“ (Honold: Ins Fremde schreiben, S. 69). Diese einleitenden Zeilen veranschaulichen, wie die Expedition durch das „Gehen“ bzw. den „Fussgang“ durch das Eis geleitet werden. Mazzini ist ein einsamer Fussgänger. Diese Eigenschaft kann auch für Polarreisen genutzt werden, denn auch Boote und Menschen bleiben auf dem Eis, in der „trostlosesten Gegend“, „einsam“. Das „Ausgeliefert-Sein“, während man unterwegs ist, widerspiegelt sich in der Einsamkeit. Mazzinis Einsamkeit wird mit Hilfe seiner Freundin – Anna Koreth – unterstrichen, denn in deren Antiquitätensammlung fand er eine Darlegung zur Nordpolreise und übernahm die Aufgabe der Chronik. Während dieser Expedition nutzte er seine erzählerische Art: Mazzini (er)findet die Realität neu.

Das Ende

Mazzinis Reise beginnt mit seiner Rekonstruktion des Textes und endet mit den inhaltslosen Seiten seines Reisetagebuchs. Mit den beginnenden Worten „Joseph Mazzini reist oft alleine und viel zu Fuß“ (Ransmayr: Die Schrecken, S. 7) kann man ihn als archetypischen Reisenden verbildlichen – ein „Wanderer“. Seine Entdeckungsreise und der Versuch, die Welt zu vermessen visualisiert die „unkenntliche“ und „ungewisse“ Art der Realität. Mazzinis Figur verliert sich und mit ihr die Wahrheit der Geschichte und damit die Opportunität, die Tatsächlichkeit wiederherrichten zu können. Eine Wiederherrichtung der Wahrheit der Geschichte ist im Eis und Schnee verloren. Die Möglichkeit, die Realität immer wieder neu zu rekonstruieren, lässt den Geschichtsschreiber „inmitten seiner papierenen Meere“ (ebd., S. 245) am Ende nie Trost finden.

Literaturhinweise:

  • Ransmayr, Christoph: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Frankfurt am Main 1997.
  • Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 32007.
  • Hamann, Christof / Honold, Alexander(Hg.) : Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Göttingen 2009.
  • Wilpert, Gero von: Sachwörter der Literatur. Stuttgart 82001.
  • Munz-Krines, Marion: Expedition ins Eis. historische Polarreisen in der Literatur. Bern 2009.

Ergänzend: Thesenpapier von Lucas Cavelti

Titelbild: Provisorische Skizze des Nordpolargebiets und des Franz-Josef-Landes von August Petermann (1874).