Science-Fiction I

Science-Fiction I

KURD LASSWITZ: AUF ZWEI PLANETEN
von Nino Gubler

Diese Woche befassten wir uns mit Kurd Lasswitz’ 1897 erschienenem Roman Auf zwei Planeten. Wir stiessen dabei insofern auf ein Novum in der deutschsprachigen Literatur, als es sich beim vorliegenden Text um die erste deutschsprachige Science-Fiction-Gestaltung einer Reise ins Weiss der Polargebiete handelte. Hauptsächlich legten wir den Fokus unserer Diskussion auf den Beginn der Handlung, an welchem der Direktor für Luftschifffahrt Hugo Torm, der Naturforscher Josef Saltner und der Astronom Grunthe in einem Heissluftballon sich zum Nordpol begeben und dort eine künstliche Insel vorfinden. 

Kontext 

Vorweg muss jedoch eingeholt werden, dass die Verbindung zwischen Luftfahrt und Polarreisen keineswegs Science-Fiction ist, sondern durchaus auf historischem Kontext beruht: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Luftfahrttechnik einen grossen Aufschwung und die noch weitestgehend unerforschten Polargebiete stellten eine besondere Herausforderung für den Entdeckermenschen und seine technischen Errungenschaften dar. Der schwedische Polarforscher Salomon Andrée etwa unternahm ebenfalls 1897 eine Ballonfahrt über den Nordpol, von der er allerdings nie zurückkehrte. Lasswitz wurde seinerzeit wohl von jenen aufblühenden Bewegungsformen in den Lüften inspiriert. Ihm genügten jedoch die erdnahen Flugformen nicht. Durch radikale Beschleunigung und Orientierungsverlust – durch einen Unfall – lässt er die Ballonfahrt seiner deutschen Expeditionsteilnehmer in die Sphären der Weltraumfahrt emporsteigen. 

Die Schlange

«Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizonte sich hebt.» (S. 7)

Gleich in der Exposition des Textes lässt Lasswitz eine Schlange fast schon onomatopoetisch im präsentischen Erzählstil über das sommerliche Polareis jagen. Die bizarr anmutende Szene wird aber kurzerhand aufgelöst, denn die Schlange mit ihren wilden Bewegungen in der Mitternachtssonne entpuppt sich als Metapher für die heruntergelassenen Schleppseile des Heissluftballons der drei Expeditionsteilnehmer Torm, Saltner und Grunthe. Der Text verlässt damit gleich wieder den poetischen Schreibstil und wechselt formal über in ein späteres Erzählen im Tempus des Präteritums. 

«Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt»

Darauffolgend wird die Besatzung vorgestellt und der Ballon in seiner technischen Komplexität beschrieben. Ironischerweise heisst das Luftgefährt selbst «Pol». Man habe also drei Forscher, die mit dem «Pol» zum Pol reisen wollen – ist dies etwa ein Beglaubigungsversuch für die scheinbar unbestimmbare Lokalisierung dieses winzigen Punkts? Damit stossen wir in unserem Seminar auf eine wiederkehrende Problematik, nämlich die Unsicherheit der Ortsbestimmungen im Weissgebiet: Was und wo ist eigentlich dieser Pol? Unter der Besatzung des Ballons wird diese Frage ebenfalls verhandelt. In Wechselwirkung mit den zunehmend versagenden Messgeräten des Ballons wird sowohl der Besatzung als auch der Leserschaft deutlich, dass die herkömmlichen wissenschaftlichen Mittel zur Einteilung des Erdballs in Zeitzonen sowie Längen- und Breitengrade rund um diesen kleinen Punkt ad absurdum geführt werden können:

«Der Pol ist ein Unstetigkeitspunkt. Prinzipien sind Grundsätze, die unter der Voraussetzung gelten, dass die Bedingungen bestehen, für welche sie aufgestellt sind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbestimmungen. Am Pole sind alle Bedingungen aufgehoben. Hier giebt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Ost oder West bezeichnet werden. Hier giebt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend sind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten also auch alle Grundsätze zusammen oder gar keine. Es ist der vollständige Indifferenzpunkt aller Bestimmungen erreicht, das Ideal der Parteilosigkeit.» (S. 18)

Legitimiert Lasswitz damit die Ansiedlung seiner fiktiven Martiergeschichte genau an diesem Ort, der für uns Menschen so schwer fassbar ist und nur als äusserste Peripherie wahrgenommen wird? 

Als die Expeditionsteilnehmer zu ihrem Verblüffen eine künstlich angelegte, kreisförmige Insel mit einem riesigen zylindrischen Krater am Pol entdecken, blicken sie nacheinander durch ein Fernrohr und erkennen eine nahezu exakte Landkarte der Erde. Ihnen wird schnell klar, dass diese Karte nicht von Menschenhand geschaffen sein kann. Der Mittelpunkt dieser Karte bildet (wie heutzutage bei der Fahne der Vereinten Nationen) der Nordpol, wobei jedoch die letzten 4 Breitengrade nur als Umkreis ohne Fläche eingezeichnet sind. Der Pol wird damit selbst aus extraterrestrischer Perspektive nicht fest bestimmbar. Stossen wir damit bei den Polen an die Grenzen der kartographischen Darstellungsmöglichkeiten?

Die Martier

Nachdem die Ballonfahrer die künstliche Insel entdeckt haben, geraten sie in einen Strudel, der sie rasant ansteigen lässt. Daraufhin gelangen sie weit oben in der Höhe auf einen parallel zum Pol angelegten Weltraumbahnhof der Martier. Dieser stellt bei Lasswitz ebenfalls ein literarisches Novum dar. Lasswitz’ Martier benutzen den Pol nicht nur, um aus ihm ein spezifisches Druckverhältnis – ein abarisches Feld – zu gewinnen, sondern verorten diesen auch als Zentrum der Erde, von dem aus sie die Erde kolonisieren wollen. Es findet damit eine Umkehrung von Peripherie und Zentrum statt. Doch wer sind eigentlich diese Martier und was wollen sie auf der Erde? Was wollen sie mit dem Pol? Ihre Gesellschaft ist der menschlichen in allen Belangen um einige Jahrtausende voraus, da auch der Mars ein um einiges älterer Planet als die Erde ist. Die martische Gesellschaft hat seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr erlebt und die Martier sind grundsätzlich durch ihre evolutionäre Überlegenheit der Überzeugung, dass das martische Wesen, im Zeichen der Vernunft und der martischen Kultur, die Erde und ihre Bewohner emanzipieren muss. Aufgrund ihrer zivilisatorischen Überlegenheit erheben sie letztlich den Anspruch, das souveräne Gebiet des Pols zu annektieren. Dieses Szenario erinnerte uns stark an jene kolonialistischen Ideologien, welche zum Zeitpunkt des Romans auf der Welt noch vorherrschten. Ferner warf dies die Frage auf, wie sich Territorialpolitik und die Souveränität der Polargebiete zueinander verhalten.

Kolonialismus und Begegnung

Bisher waren wir es in den Texten unseres Seminars gewohnt, dass vorwiegend weisse, männliche Entdecker sich in die Polargebiete aufmachten, um dort eine Nationalflagge in das Eis zu stecken und in den Diensten ihres Landes den Pol für sich zu reklamieren. Nun sind es plötzlich die Martier, die sich als kultiviertes Volk behaupten und vom Pol aus ihre martische Ideologie verbreiten wollen. Wir stellen dabei fest, dass die herkömmliche Bewegung von der Welt zum Pol hin sich in eine vom Pol ausgehende Bewegung in die Welt abändert. Damit greift der Text bemerkenswert kritisch für seine Zeit den Diskurs über Kolonialismus um 1900 auf. Es entsteht ausserdem ein «zivilisatorisches» Hierarchiegefälle: Die gemeinsame Ansicht über die Rückständigkeit der Inuits etwa verbindet anfangs noch die Deutschen mit den Martiern. Sobald die Deutschen aber erkennen, dass auch sie selbst von den Martiern als rückständig angesehen werden, richtet sich ihr Weltbild gegen sie – eine ausserirdische Projektion des eigenen Überlegenheitsanspruches ist nötig, um ihnen dieses hierarchische Gefüge vor Augen zu führen. Am Ende stehen wir also nicht bloss vor einer Science-Fiction Geschichte über Martier am Nordpol, sondern erleben auch eine (für das späte 19. Jahrhundert) bemerkenswert kritische Selbstreflexion darüber, wie sich die imperialistische Gesellschaft im glatten Raum des Weissgebiets inszeniert.

Literatur: 

  • Lasswitz, Kurt: Auf zwei Planeten. Frankfurt am Main 1979.

Titelbild: Salomon Andrée startet seinen (später verschollen gehenden) Ballonflug zum Nordpol.