Heroismus I

Heroismus I

ERNEST H. SHACKLETON UND GEORG HEYM
von Emika Märki

In diesem Blogbeitrag wird versucht, anhand von Heyms kurzem Text «Das Tagebuch Shakletons» die Komplexität des Diskurses über den (Ant-)Arktis-Heroismus um 1900 zu verhandeln. Georg Heym (1887–1912) war ein deutscher Schriftsteller und gilt als einer der wichtigsten Lyriker des frühen literarischen Expressionismus. Sein Fragment gebliebener Text ist an das Tagebuch Ernest H. Shackletons angelehnt und im Kontext des Polarfiebers, welches die Eroberungsversuche des südlichen und nördlichen Pols auslösten, besonders interessant, weil er ein kritisches Bild des heroischen Entdeckers vermittelt.

Fieber und Fantasien

Die Nimrod-Expedition, offiziell Britische Antarktis-Expedition 1907–1909, war eine von drei Antarktisexpeditionen, welche vom britischen Polarforscher Ernest H. Shackleton geleitet wurden. Shackletons Ziel war die Erreichung des geografischen Südpols, den er aber um rund 180 km verfehlte. Aufgrund mangelhafter Ausrüstung, fehlenden Proviants und zunehmender Erschöpfung mussten er und seine Mannschaft umkehren. Dennoch war dies die bis dahin grösste Annäherung an einen der beiden Pole.

Solche historischen Polarexpeditionen – unter anderem von Amundsen, Shackleton oder Scott – lösen um 1900 ein wahrhaftiges Polarfieber aus. Noch heute gilt die Eroberung der beiden Pole in den Jahren 1908/09 und 1912 als eines der wichtigsten Medienereignisse des frühen 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt, weil verschiedene Medien wie Tagebücher, Reiseberichte und Fotografien als Zeugnisse dieser Errungenschaften dienten. Gleichwohl finden sich um 1900 Polarfantasien verstärkt als Motiv in Film und Literatur wieder.

Die Polarliteratur um 1900 umfasst demnach ein Sammelsurium verschiedenster Wissensobjekte, welches Realität und Fantastisches miteinander vermischt. So auch in Georg Heyms knapp zwanzigseitigen Text «Das Tagebuch Shakletons». Der Autor schreibt den Namen nur mit «k», obwohl ihm die korrekte Schreibweise mit «ck» vertraut gewesen sein dürfte. Diese Modifikation kann als Hinweis auf die Fiktionalisierung von Shackletons ‚realen‘ und ‚historischen‘ Bestrebungen verstanden werden.

Fingierte Authentizität

Dem Haupttext ist die längere Vorrede eines fiktiven Herausgebers vorangestellt, und zwar zur 125. Auflage, welche 1925 in London erschienen ist. Absurderweise soll die Vorrede jedoch erst 1926 geschrieben worden sein. Entsprechend obskur mutet auch der weitere Verlauf der Vorrede an: Sie entwirft eine neue Genealogie der Antarktis-Eroberung. Anstelle von Shackleton wird der Herausgeber H. H. H. Hannawacker als «der berühmte Entdecker des Südpols» (130) bezeichnet, welcher nicht nur in den «knöchernen Händen des erfrorenen» (ebd.) Shackletons dessen Tagebuch gefunden, sondern seine erfolgreiche Expedition zugleich biografisch vermarktet hat, wie die Verweise auf seine weiteren Werke am Ende der Vorrede sowie in einer Fussnote (124) zeigen. Besonders markant sind die Auflagenzahlen: Die Entdeckung des Südpols« soll in 25. Auflage erschienen sein, »Das Reich des Südpolarmenschen« weist 204 Auflagen auf. Am erfolgreichsten war wohl das Werk »Die Entdeckung des Südpols und die Auffindung der Leichen Shakletons und seiner Freunde«, welches die unglaubliche Zahl von 326 Auflagen aufbringt.

Entdeckerkritik

Nebst den zeitlichen und genealogischen Ungereimtheiten und den absurden Auflagenzahlen zitiert Hannawacker zusätzlich aus einem Aufsatz eines indischen Gelehrten, welcher am 31. Dezember 1910 in der «Review of Psychological Sciences» (129) behauptete, dass Shackleton und seine Begleiter in Wahrheit keine Menschen wären, sondern während ihrer Expedition zu «Golems» (124) mutierten:

«Man untersuche sie nur einmal genauer, man meißle ihnen ihre Schädel auf! Ich wette und ich verbürge dafür meinen Kopf, man wird anfänglich alles so finden wie es im Schädel normaler Menschen auszusehen pflegt. Untersucht man aber das Große näher […], so wird man finden, daß da wo sonst auf dem vorderen Hügelpaar die glandula pinealis ruht, nichts, aber auch gar nichts zu finden ist, oder ich will nicht so weit gehen, vielleicht ist bei technisch so glänzend ausgeführten Golems, wie <diesen> vier, dort eine künstliche Nachbildung der glandula pinealis angebracht, sicher aber nichts, was deren Funktionen ausführen kann» (125).

Auch wenn Heym sich damit im Bereich der populären Phantastik seiner Zeit bewegt, so wird gleichwohl deutlich, dass es sich hierbei um eine Helden-Kritik handelt. In Shackleton sieht Heym keinen heroischen Abenteurer, sondern ein «Scheinwesen» (124). Durch die Verwendung mathematischer Formeln, die Zitation von Sekundärliteratur und abstrusen Herausgeberkommentaren wird der Vorrede ein nur ironisch wissenschaftlicher Anstrich verliehen. Gleichzeitig lässt sich konkrete Kritik herauslesen, etwa wenn darauf hingewiesen wird, dass das »abendländische Wissen« (126) nicht zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheide.

Literarische Entwertung von Shackletons Text

Auch beim Tagebuch selbst handelt es sich im Grunde genommen nicht um einen Bericht, in dem sukzessive Ereignisse festgehalten werden. Vielmehr sind es Analepsen, die während Shackletons Gefangenschaft in einer Eishöhle entstehen. Dabei vermitteln die Schilderungen ein kaum schmeichelndes Bild der Polarforscher. Shackleton, aus dessen Perspektive erzählt wird, nimmt sich und seine Begleiter als «vier Ausgeworfene der Zivilisation« (130) wahr, die wie ein »Zug sibirischer Sträflinge« (135) durch »die Trostlosigkeit« (133) der antarktischen Eiswüste irren. Während ihrer Reise erleben sie jedoch eine fantastische Veränderung: Erhabenheit erfasst sie, als sie einer Umgebung gewahr werden, die noch nie jemand vor ihnen jemals zu Gesicht bekommen hat. Sie entdecken «unter dem Glanz der großen kupfernen Sonne» (139) «Paradiese des Südpols» (ebd.), alles in «seltsamen Weiss» (ebd.), was sie «trunken vor Wonne» (ebd.) macht.

Hierbei vermischen sich in dieser Antarktisfantasie zwei diametrale Vorstellungen: die paradiesische Wärme des sonnigen Südens und das Weiss der eisigen Polarregion. Gesteigert wird die Polarfantasie, als Shackleton am Südpol auf «Polarmenschen» (142) sowie unleserliche Schriftzeichen stösst. Der Erzähler lässt offen, ob die Forscher tatsächlich auf eine unbekannte Zivilisation treffen oder ob die Aufzeichnungen Shackletons Fantasie entsprungen sind. 

Heldenkursus als Fluchtpunkt

Das Tagebuch wird zusehends verwirrter und endet in zwei Albträumen. Im ersten Traum wird Shackleton von den Polarmenschen das Gehirn entfernt. Der Auszug ist mit einem ironischen Hinweis versehen, dass es sich hierbei um den «Prozess der Golemisierung» (143) handle, bei dem die Erinnerung von Shackleton «durch hypnotische Mittel in ein Traumbild verwandelt wurde» (ebd.). Dies ist in zweifacher Sicht als implizite Kritik zu verstehen: Erstens führt der Kommentar die Kritik am pseudo-wissenschaftlichen Anspruch des Entdeckertums aus der Vorrede fort, und zweitens stellt er die Motivik und Beweggründe der Forscher in dieser Expedition in Frage.

Im zweiten Traum, der zugleich das Ende von Shackletons Tagebuch darstellt, sehen sich die Forscher der endlosen Weite des Eises ausgesetzt. Der Traum bildet das Kippmoment, in dem das Phantasma hegemonialer und heroischer Männlichkeit implodiert. Die vermeintliche koloniale Überlegenheit wird umgekehrt; die weissen Polarmenschen nehmen Überhand:

«Was sind sie? Automatische Intelligenzen möchte ich sie nennen, oder denkende Uhrwerke, die von jenen unglaublichen Gehirnen am Südpol mit alle dem ausgerüstet wurden, was das Gedächtnis, die Denkweise etc. des wahren Shakleton, Adams, Marschall, Wild ist.» (124ff.)

Statt als bewundernswerte Eroberer steuern die Männer wie ferngesteuerte Automaten auf den Pol zu, aus ihnen sind von heroischer Anerkennung getriebene «Drahtpuppen» (141) geworden. Der Heldenkursus hat aus ihnen «in künstliche Hüllen hereingeblasene Spiegelseelen» (124) gemacht, welche nichts menschengemein mehr haben. 

Literatur:

  • Heym, Georg: Das Tagebuch Shakletons. In: Dichtungen und Schriften. Hg. von Karl L. Schneider. Bd. 2: Prosa und Dramen. München 1962, S. 124–43.

Ergänzend: Thesenpapier von Lena Schiller

Titelbild: Jameson Adams, Frank Wild und Eric Marshall platzieren den Union Jack am südlichsten Punkt (88° 23′), den die Nimrod-Expedition erreicht. Photographie von Ernest Shackleton, 9. Januar 1909.