Die vergessene Alleskönnerin

Die vergessene Alleskönnerin

Briefe der Vereinigung der Freunde des Botanischen Gartens der Universität Zürich

57. Jahrgang, Nr. 5 November 2023

Ein Beitrag von Camille Brioschi

Geschichte der Meisterwurz
Haben Sie schon einmal von der Meisterwurz gehört? Die Doldenblütlerin mit dem lateinischen Namen Peucedanum ostruthium war in früheren Zeitepochen weit herum bekannt und als Allheilmittel geschätzt. Der Name Meisterwurz kommt nicht von ungefähr, schon Hildegard von Bingen hat die Pflanze in der «Physica» im 12. Jahrhundert erwähnt (Lit. 1). Verwenden kann man die gesamte Pflanze, ob Blüten, Samen oder Blätter. Vor allem wird aber das Rhizom für die medizinischen Anwendungen bevorzugt. Schneidet man eine Scheibe des Rhizoms ab, fliesst ein gelber und harziger Balsam heraus (Abb. 1). Er ist scharf und bitter.

Abbildung 1
Ein Schnitt durch frisches Rhizom einer Meisterwurz.

Hieronymus Bock (1546), ein wichtiger Botaniker aus dem 16. Jh., beschreibt es etwa so: «Die Meisterwurtz hatt mich schier verderbt /also ubel brandt mich der zähe gäl safft auff der zungen. Der grün Pfeffer ist nicht so scharpff  /als die grün Meisterwurtz /» (Lit. 2). Die ganze Pflanze verströmt einen einzigartigen, aromatischen Geruch. Diese intensiven Duftstoffe waren auch der Grund, wieso die Meisterwurz als Schutz gegen die Pest eingesetzt wurde. So findet sich folgendes Zitat in einer Schweizer Sagensammlung: «Vor vielen hundert Jahren wüthete einmal die Pest in Grindelwald, so dass unzählige Menschen starben. Kein Mittel wollte dagegen helfen. Allgemeine Trostlosigkeit. Da ruft von einem Felsen herab vernehmlich ein Bergmännlein: ‹Bruchit Astränzen (Peucedanum ostruthium) und Pimpinäll (Pimpinella sp.), so stärben die Kranken nid so schnäll!›» Astrantia und Bibernell wurden angewendet, und dem «Tod ward Einhalt gethan.» (Lit. 3).

Abbildung 2
Die Meisterwurz
(Peucedanum ostruthium) in ihrem Habitat.
Abbildung 3 Getrocknete Rhizome der Meisterwurz.

Stark riechende Pflanzen spielten bis in die Neuzeit eine wichtige Rolle in der Abwehr von Krankheiten. Man ging davon aus, dass sich Krankheiten über schlechte Luft ausbreiten und man sich davor mit guten Düften schützen kann. Diese Idee wurde auch übertragen auf die Abwehr allen möglichen Übels. So wurde die Meisterwurz unter anderem als Schutz gegen Hexen, Epilepsie und Gewitter eingesetzt. Im Tirol und im Wallis werden mit ihr auch heute noch Räume geräuchert, um Häuser und Ställe zu reini-gen. Das Rhizom in der Tasche mitgenommen dient als Talisman, soll Mut geben und vor Krankheiten schützen. Man munkelt, Paracelsus hätte immer ein Rhizom dabei gehabt.

Botanische Fakten
In den Bergen ist sie Ihnen sicher schon einmal begegnet. Doch trotz ihrer Grösse von bis zu einem Meter ist die Meisterwurz eher eine unscheinbare Pflanze. Man kann sie verwechseln mit dem Gebirgs-Kälberkopf (Chaerophyllum hirsutum aggr.) oder dem Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium), welche oft neben der Meisterwurz wachsen und ebenfalls eine weisse Dolde als Blütenstand auf-weisen. Die Blätter der Meisterwurz sind in drei Teilblätter aufgeteilt, welche wiederum gelappt und spitz gezähnt sind. Sie können bis zu 30 cm lang werden. Die weissen Blüten der Doppeldolden sind eher kugelig angeordnet. Wenn es der Meisterwurz gefällt, kann sie sich durch ihre Rhizome stark ausbreiten. Sie vermehrt sich damit vegetativ (Abb. 2). Die Pflanze bevorzugt schattige und frische Orte in der subalpinen bis alpinen Höhenstufe (1300 – 2500 m.ü.M.). Die natürlichen Verbreitungsgebiete sind hauptsächlich der Alpenraum und die Pyrenäen, aber die hoch geschätzte Heilpflanze wurde über Osteuropa und Deutschland bis nach Skandinavien und auf die britischen Inseln mitgenommen und in die Gärten gepflanzt. Selbst an der nordamerikanischen Ostküste gibt es heutzutage noch einige verwilderte Populationen.

Die Meisterwurz überwintert als horizontal wachsendes Rhizom direkt unterhalb der Erdoberfläche (mehrjähriger Hemikryptophyt). Davor sterben die Blätter und Blüten ab und alle Nährstoffe werden über den Winter im Rhizom gespeichert. Somit ist der beste Sammelzeitpunkt der Herbst oder der Frühling, bevor die Meisterwurz wieder austreibt.

Ihre heilenden Kräfte
Das ätherische Öl im Balsam enthält 39 verschiedene Inhaltsstoffe (Lit. 4). Hauptbestandteile sind Monoterpene, dazu kommen Flavonoide und Phenolsäuren wie Cumarine. Für die Meisterwurz gehören diese Stoffe zu ihrem Immunsystem: Sie dienen als Schutz vor Insektenfrass oder als Abwehr gegen Viren, Bakterien oder Pilze. Medizinisch wertvoll sind in der Meisterwurz vor allem die Cumarine. Einige davon (u. a. Osthol, Oxypeucedanin, Imperatorin) wurden auch schon in mehreren pharmazeutischen Studien untersucht. Das Ergebnis: Einzelne Stoffe sind unter anderem antimikrobiell, fiebersenkend und entzündungshemmend (Lit. 5 – 7). Zudem haben die Cumarine unter anderem positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System und bei der Krebsbekämpfung (Lit. 8).
In der traditionellen Heilkunde wird die Meisterwurz breit angewendet. Die häufigsten Anwendungen seit dem Mittelalter bis in die heutige Zeit hinein sind zum Beispiel schlecht heilende Wunden, wobei Salben oder ein Brei aus dem Rhizom oder den Blättern auf die Haut gelegt wird. Bei Erkältungen und Bronchitis werden Tees getrunken und bei Magendarmbeschwerden zum Beispiel ein Bitterschnaps hergestellt. Es gibt aber auch noch viele andere Anwendungen, wobei meist das getrocknete Rhizom verwendet wird (Abb. 3). Es soll bei Zahnschmerzen helfen, bei Frauenbeschwerden und bei verschiedenen Krankheiten bei Nutztieren. Alles in allem hat die Meisterwurz den Titel «Meister» verdient, als vielfältig anwendbares Allheimittel.


Camille Brioschi, Gartenlehrerin am BGUZH und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gruppe Pflanzenökologie ETH Zürich

Literatur 1
Berendes, J. (1897) «Die Physica der Heiligen Hildegard.» Wien: Wochenschrift «pharmaceutische Post», Seite 46
Literatur 2
Bock, H. (1546) «Kreuterbuch – So in unserem deutschen Lande wachsen, samt ihren Namen und Vermögen.» Seiten 341 – 343
Literatur 3
Tschirch, A. (1917) «Handbuch der Pharmakognosie.» Leipzig: Verlag von Chr. Herm. Tauchnitz
Literatur 4
Brioschi, C. (2020) «Botanical and ethnobotanical studies on Peucedanum ostruthium (Apiaceae) from the upper Saastal: Variability of morphology and coumarin components, and use as a medicinal plant.» Masterarbeit, Universität Zürich
Literatur 5 – 7
Cisowski, W. et al. (2001) «Essential Oil from Herb and Rhizome of Peucedanum ostruthium (L. Koch.) ex DC.», Zeitschrift für Naturforschung C, 56 (11 – 12), Seiten 930 – 932, doi: 10.1515/znc-2001-11-1202
Hiermann, A. and Schantl, D. (1998) «Antiphlogistic and Antipyretic Activity of Peucedanum ostruthium.» Planta Medica, 64 (5), Seiten 400 – 403, doi: 10.1055/s-2006-957468
Zimecki, M. et al. (2009) «Immunomodulatory and Anti-Inflammatory Activity of Selected Osthole Derivatives.» Zeitschrift für Naturforschung C, 64 (5 – 6), Seiten 361 – 368, doi: 10.1515/znc-2009-5-610
Literatur 8
Joa, H. et al. (2011) «Identifi cation of Ostruthin from Peucedanum ostruthium Rhizomes as an Inhibitor of Vascular Smooth Muscle Cell Proliferation.» Journal of Natural Products, 74 (6), Seiten 1513 – 1516,
doi: 10.1021/np200072a