Caspar David Friedrich, Das Eismeer (1823/24)

Zum Auftakt

Dieser Blog versammelt auf Anregung und unter engagierter Mitarbeit der Seminarteilnehmer*innen des titelgebenden Kurses „Ins Weißgebiet“ Diskussionsergebnisse, Zusatzmaterialien und weiterführende Informationen der gemeinsamen Arbeit an einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Erschließung der Polargebiete.

Von folgenden Prämissen nahm das Seminar seinen Ausgang:

Die Polarregionen können als die terra incognita schlechthin gelten. Sie figurieren als kulturelle wie geographische Peripherien und werden, gleichsam korrelierend mit den Eisflächen, die längste Zeit über als weiße Flecken auf den Landkarten verzeichnet, die im doppelten Sinne beschrieben werden müssen. Raumerschließung, Kartographie und Inskription sind entsprechend als eng zusammenhängende Verfahren zu denken. Ihr Ordnungsrepertoire ist allerdings stets schon davon bedroht, angesichts der unterscheidungslosen, orientierungshemmenden und wiederholt tödlichen Weißgebiete in einen stagnierenden Taumel der Zeichen zu geraten. Komplementär dazu gestalten sich die Polarregionen jedoch gerade durch ihre semiotische Offenheit zugleich als Möglichkeitsraum vielfältiger Aneignungen, Projektionen und Imaginationen.

Auf dem Spiel stehen dabei immer auch die Bedingungen von Wissensproduktion, und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die Entdeckungsreisen von Anfang an vor allem durch Dantes Inferno genuin literarisch präformiert sind: Poetik und Episteme interferieren offenbar in privilegierter Weise miteinander. Literatur- und Wissensgeschichte lassen sich demgemäß nicht (mehr) getrennt voneinander betrachten. Die solcherart aufgerufenen, wechselseitigen Traditionsbezüge münden dann in eine Serie von Fort- und Überschreibungen, aus der heraus sich im Laufe des 19. Jahrhunderts jene großflächige „Textur intertextueller Verwebungen“ (B. Menke) der Polargebiete ausbildet, wie sie sich als charakteristisch für das Korpus herausstellen wird.

Im Seminar widmen wir uns u.a. Texten von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Georg Forster, Adelbert von Chamisso, Mary Shelley, Georg Heym, Alfred Döblin und Christoph Ransmayr. In gemeinsamen Lektüren wollen wir sie auf folgende (und damit verwandte) Aspekte befragen: Welche Möglichkeiten kultureller Zeichengebung erproben und welche Qualitäten der Weißheit thematisieren sie? In welcher Form lässt sich an ihnen das Verhältnis von Wahrnehmung und Schrift(lichkeit) verhandeln? Welche Modellierungen von Grenzen, Enden und Rändern bieten sie an? Welche Erzählgenres (Reisebericht, Abenteuerroman, Science Fiction, …) und Rollenbilder (insbesondere ‚heroischer‘ Männlichkeit) privilegieren sie? Wie verfahren sie mit den (literarischen) Möglichkeiten der Vermessung von exterritorialen Räumen? Und in welchem Maße beteiligen sie sich daran, aus den Polarreisen Medienereignisse für eine breitere Öffentlichkeit zu machen?

Titelbild: Caspar David Friedrich, Das Eismeer (1823/24)