Reisen um die Welt I

Reisen um die Welt I

DANTE UND GEORG FORSTER
von Xenia Bojarski

Dante, Comedia (in Auszügen), 26. Gesang (S. 311-315):

Dante, der von Vergil durch die Hölle geführt wird, trifft in diesem Gesang auf Odysseus, der sich unter anderem aufgrund seiner List des Trojanischen Pferdes im achten Höllenkreis des Betrugs befindet. 
Odysseus wird als Reiselustiger und als wissbegieriger Aufklärer dargestellt: 

Hat weder Vaterglück noch Sohnesehrfurcht / […] / In mir die heisse Glut besiegen können, / Die mich hinaustrieb, nach der Welt zu forschen / Und nach den Lastern / und dem Wert der Menschen […] / Sollt ihr euch der Erforschung nicht verschliessen, / Der Sonne folgend unbewohnter Länder / […] / Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben. (S. 311-313)

Genau an diesem Wissensdurst und dem Drang, das Unbekannte zu erfahren, wird hier Kritik geübt. Zudem gilt Odysseus als ein Grenzüberschreiter, der die Säulen des Herkules übertreten hat.  
Auf dem Weg zum Südpol wird Odysseus schliesslich schiffbrüchig: „Der Bug nach unten, wie´s dem Herrn gefallen, / Bis über uns die Wogen sich geschlossen.“ (S. 315)
Odysseus kann somit als Folie oder Vorlage für den späteren Forschungsdrang und für moderne Entdeckungsreisen betrachtet werden.

Überlegungen zu Dantes Hölle: 
Dante entwirft die Vorstellung einer trichterförmigen Hölle, die in neun Höllenkreise unterteilt werden kann. Die Vorstellung wird wiederholt in der Kunst aufgegriffen, wie beispielsweise auf diesem Bild von Sandro Botticelli. 
Zwei der neun Höllenkreise sind mit Eis bedeckt. Die Existenz von Eisflächen oder ganzen Eisschichten widerspricht der Vorstellung von einer Hölle oder einem Fegefeuer – und doch werden gleich mehrere Schichten als Eisschichten dargestellt: Wie können Eis und Vorstellung der Hölle vereint werden? Wie kommt das Eis in die Hölle?

Georg Forster, Reise um die Welt (in Auszügen)

Der damals erst siebzehnjährige Georg Forster begleitete seinen Vater, der als Naturforscher auf der Resolution unter Kapitän James Cook auf dessen zweiter Südseereise mitsegelte. Nach der Rückkehr wurde die Schrift seines Vaters abgelehnt, weshalb sein Sohn Georg zuerst eine englische und später eine, weitgehend identische, deutsche Reisebeschreibung veröffentlichte. Die Vorrede der Reisebeschreibung übernimmt als Paratext mehrere wichtige Funktionen wie die Lektürelegitimation, Qualitätssicherung und nicht zuletzt Lobrede auf das englische Königshaus. Zudem stellt Forster einen poetischen Anspruch an seine Schrift (claritas und perspicuitas, S. 18): Der Reisebericht erfährt in dem Sinne eine Literarisierung und unterscheidet sich stark von anderen, vorherigen Reiseberichten, da es sich hier nicht um eine blosse Faktenaufzählung handelt. Georg Forster begründet mit Reise um die Welt die moderne Reiseliteratur. 

Besprechung S. 131-132: 
Bemerkenswert ist auf diesen Seiten, wie Georg Forster die Natur um sich herum als gefährlich, teilweise sogar lebensbedrohlich und gleichzeitig unglaublich schön beschreibt: „Die Gestalt derselben [hohen Eis-Inseln] war mehrenteils sonderbar, und des zertrümmerten Ansehens wegen oft mahlerisch genug.“ (S. 131f.). Er erkennt Schönheit in einer bedrohlichen Natur, was der Beschreibung Erhabenheit anmuten lässt. 
Zudem verwendet Forster zur Beschreibung der ihn umgebenden Natur ihm bekannte Begriffe. Durch die Projektion der menschengemachten Dinge (vor allem grosser Bauwerke der Menschheitsgeschichte) auf die Natur kultiviert er diese. Er verwendet somit den Begriff der cultura in ihrer doppelten Funktion. 
Was sagt dies über die Beschreibung und Perzeption der (Eis-)Landschaften aus?
Georg Forsters Reisebericht ist durchzogen von intertextuellen Bezügen. Es scheint beinahe, als mache er nicht nur eine Reise um die Welt, sondern auch eine Reise durch die Literaturgeschichte. So findet sich auf S. 464 auch ein Verweis auf Dantes Comedia: „Dies stellte einen grossen und fürchterlichen Anblick dar. Es schien, als ob wir die Trümmern einer zerstörten Welt, oder, nach den Beschreibungen der Dichter gewisse Gegenden der Hölle vor uns sähen.“ Dabei ist anzumerken, dass Georg Forster seine Umgebung nicht mit einer Hölle gleichsetzt, jedoch in gewissen Situationen Vergleiche anstellt und sich dabei bereits vorhandener literarischer Erfahrungen und Beschreibungen bedient.

Besprechung S. 464-465: 

Haben wir also Land verfehlt, so muss es ein Eyland seyn, das seiner Entfernung von Europa und seines rauhen Clima wegen, für England von keiner Wichtigkeit seyn kann. […] Für uns ists genug, erwiesen zu haben, dass unter dem gemässigten Himmelsstrich in der Südsee, kein grosses festes Land anzutreffen sey (S. 465)

Dieser Abschnitt ist aus mehreren Gründen erwähnenswert. Zunächst geht aus dieser Aussage folgendes hervor: Es wurde etwas gesucht, jedoch nicht gefunden – woraus geschlussfolgert wird, dass es in diesem Fall auch nichts Relevantes geben kann. Kondensiert bedeutet dies: Nur was erfahrbar ist, existiert auch tatsächlich.
Was sagt dies über das Weltbild aus? Zudem wird hier eine Definition des Begriffs Land etabliert, die infrage gestellt werden kann und sollte.

Was bedeutet der Ausruf „Land in Sicht“, wenn man sich seit geraumer Zeit auf einem Schiff in der Südsee befindet? Dies musste sich auch Georg Forster fragen: Wir haben festgestellt, dass Georg Forster nicht auf der eurozentrischen Sicht beharrt und das Eis als Land ablehnt. Dennoch ist klar: Der Begriff Land wird hier neu verhandelt: Als Georg Forsters „Freund Maheine“, ein Tahitianer, zum ersten Mal Eisflächen auf dem Meer entdeckt, bezeichnet er diese als Land. Die Schiffsbesatzung versucht ihm daraufhin zu erklären, dass es bloss aus „erhärtetem süssen Wasser“ bestehe (und folglich nicht wirklich Land sein könne). (S. 458) Die Kollision dieser unterschiedlichen Auffassungen nötigt dazu, die Definition von Land zu hinterfragen und zu überdenken. Die eurozentrische Definition von Land, als einem festen, unbeweglichen Untergrund schmilzt hier förmlich dahin. Denn wie kann Eis, etwas das schmilzt, abbricht, auf dem Meer schwimmt, dynamisch ist und bleibt, als Land definiert werden? Mit Joseph Vogl liesse sich sagen: Es gibt nicht das Land. Die Definition des Begriffs ist kulturell, geografisch und zeitlich geprägt. 

Literatur: 

  • Alighieri, Dante: Die göttliche Komödie. Übers. von Hermann Gmelin. 2., unveränderte Auflage. Stuttgart 1968.
  • Forster, Georg: Reise um die Welt. Hg. und mit einem Nachwort von Gerhard Steiner. 11. Auflage. Frankfurt am Main 2014. 
  • Vogl, Joseph: Poetologie des Wissens. In: Maye, Harun und Scholz, Leander (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft. München 2011, S. 49-71.

Bildquellen: 
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Sandro_Botticelli_-_La_Carte_de_l%27Enfer.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Resolution_(Schiff,_1771)#/media/Datei:Resolution.jpg

Ergänzend: Thesenpapier von Marco Cousin

Titelbild: Georg Forster: Ice Islands with Ice Blink, 1773 (Mitchell Library, State Library of New South Wales, Sydney)