Reisen um die Welt II

Reisen um die Welt II

ADELBERT VON CHAMISSO
von Marco Cousin

Herzlich willkommen zum zweiten Blogbeitrag dieses Seminars, dessen Kern heute aus einer neuen Reise um die Welt besteht: jener Adelbert von Chamissos. Zusätzlich wurden Überlegungen zu Adelberts Fabel angestellt. Anders als im letzten Beitrag, welcher sich vornehmlich Auszügen aus Dante Alighieris Die Göttliche Komödie sowie Georg Forsters Reise um die Welt und damit der Annäherung an den Südpol gewidmet hat, behandelt der faktuale Primärtext, der diesem Beitrag zugrunde liegt, die nördliche Polarregion, insbesondere den Versuch, die Nordwestpassage zu finden. Die Ausführungen in diesem Blogbeitrag haben keinen abschliessenden und auch keinen unumstösslichen Charakter. Es handelt sich dabei lediglich um eine Zusammenfassung einiger Beiträge und Erkenntnisse aus der Seminarsitzung zu den beiden behandelten Texten.

Es sollen zwei Texte von Chamisso in diesem Blogbeitrag diskutiert werden. Das sind zum einen Adelberts Fabel (S. 7–13) und zum anderen Auszüge aus dem Tagebuch der Reise um die Welt (S. 172–199 u. 275–301). Adelbert von Chamisso hat innerhalb des zweiten Textes eine Doppelrolle inne, da er – ähnlich wie Georg Forster – sowohl schriftstellerische als auch naturwissenschaftliche Ansprüche an seinen Reisebericht stellt. Diese Doppelrolle lässt sich auch am zuvor dargelegten Aufbau seiner Aufzeichnungen ablesen: Obwohl Chamissos Beschäftigung mit den Polargebieten in einer Form des Reiseberichts mündet, geht dem faktualen Tagebuch mit Adelberts Fabel eine erste (und mit Peter Schlemihls wundersame Geschichte im Anschluss eine zweite) Fiktionalisierung voraus.

Adelberts Fabel

Ein sowohl in den fiktionalen als auch in den faktualen Texten präsentes Medium ist das Eis, welches in Adelberts Fabel in erster Linie als «Mauern eines Kerkers, eines Grabes […] des eisigen Burgverlieses […]» (S. 8 u. 10) charakterisiert wird. Auch aus den Tagebucheinträgen Chamissos wird das Eis als ein Hindernis hervorgehen, das die Expedition neben der Krankheit Otto von Kotzebues an der Entdeckung der Nordwestpassage hindert und zuletzt zur endgültigen Umkehr zwingt. In Adelberts Fabel können diese «Bande des Eises» (S. 10) jedoch überwunden werden, um einer schönen Frau zu folgen. Es ist gut möglich, dass die griechischen Lexeme, die Chamisso in diese Erzählung eingebaut hat, wie das Eis ebenfalls auf die Expedition umgebende Umstände verweisen: Aus dem Wollen und der Notwendigkeit wird das Mit-/Zusammen-Wollen, eine romantisch angehauchte Synthese. Diese romantischen Tendenzen brauchen ob Chamissos Engagement in einer zeitgenössischen literarischen Vereinigung – genannt Nordsternbund bzw. Polarsternbund – nicht weiter zu verwundern.

Weiter liest sich die Fabel in erster Linie als Allegorie des Lebens als Erkenntnissuche, die mit Adelberts Weg und Abstieg zu den Weberinnen, welche die Schicksalsgöttinnen darstellen sollten, auch an Odysseus’ Abstieg in die Höllenkreise erinnert, wobei Odysseus und Adelbert hier auch die Eigenschaft der Wissbegierde bzw. der Erkenntnissuche teilen (vgl. dazu den Blogbeitrag zu Forster & Dante). Gleichzeitig muss im Kontext der romantischen Synthese auch auf die Möglichkeit eines intertextuellen Verweises wie etwa Novalis’ Heinrich von Ofterdingen hingewiesen werden.

Bei genauerem Hinsehen findet bei Adelberts eigener Befreiung und der Entledigung seiner Eisketten ein doppeltes Erwachen statt, eines aus einer inneren (mentalen) und eines aus einer äusseren (körperlichen) Starre, beide Male hervorgerufen durch die Kälte des Eises. Im Hinblick auf die nachfolgenden Tagebuchausführungen Chamissos lohnt es sich, diese Charakteristika und Auswirkungen des Eises im Hinterkopf zu behalten. 

Abschliessend lässt sich im Umfang dieses Blogbeitrags folgendes festhalten: Der allegorische Charakter der gesamten fiktionalen Erzählung ist evident, trotzdem bietet die Fabel als eine grosse Allegorie genug Material, um mehrere Auslegungen zu unterstützen.

Reise um die Welt – Tagebuch

Zuerst soll dieser Text und die ihm zugrundeliegende Unternehmung noch unter einem Aspekt betrachtet werden, der für alle folgenden Seminarsitzungen von Bedeutung sein könnte: dem der Homosozialität. Es gilt im Hinterkopf zu behalten, dass sowohl Georg Forsters als auch Adelbert von Chamissos Expeditionen repräsentative Glieder in einer Kette von homosozial dominierten Unternehmen mit demselben Ziel sind: Die Entdeckung der Polarregionen. Ähnlich wie die in Zukunft unternommenen Expeditionen Richtung Mond waren Polarreisen in ihren Anfängen bis zum Auftauchen von Maria Prontschischtschewa und später Josephine Diebitsch Peary eine reine Männerdomäne und bleiben es auch.

Um im Hinblick auf den zweiten Text wieder auf das Medium Eis zu sprechen zu kommen, soll als erstes die Entkontextualisierung der aus dem Eis extrahierten Mammutknochen und der Schädelknochen, die jeweils Brennholz respektive Grabbeigabe darstellen (vgl. S. 175 u. 184), für Chamisso aber faktisch in ein Museum gehören, angesprochen werden. 

Dabei scheint sich die ganze Expedition nicht von ihrer Auffassung der Schädel als historisch-anthropologisch relevanten Relikten lösen und den Stellenwert, den die Schädel für die indigene Bevölkerung einnehmen, akzeptieren zu können. Dementsprechend werden sie entkontextualisiert, als sie von den Expeditionsteilnehmern – gleich einer Nacht-und-Nebel-Aktion – gestohlen werden. Dabei nimmt das Eis in Chamissos Darstellung eine interessante Rolle als Ort des Konservierens sowie eines gleichzeitigen Verbergens und Hervorbringens ein.Chamisso dokumentiert sowohl in diesem Kontext als auch in den restlichen Auszügen keine gewalttätig endenden Konflikte zwischen indigener Bevölkerung und den Expeditionsteilnehmern wie dies bei Georg Forster mehrfach der Fall war, und zeigt sich gleichzeitig als reflektiert, wenn er die Expeditionsteilnehmer statt der indigenen Bevölkerung als «zudringliche Fremde» (S. 186) bezeichnet.

Die Ereignisse aus dem vorigen Abschnitt stehen exemplarisch für das den Text durchdringende Wechselspiel zwischen Respekt vor der indigenen Bevölkerung und dem Drang zur Ent- bzw. Rekontextualisierung und Musealisierung ihrer Besitztümer. Da sich Chamisso nur in den nördlichen Polarregionen aufgehalten hat, während Georg Forster vornehmlich im südlichen Polarkreis unterwegs war, lassen sich die beiden Polargebiete als unterschiedliche (Kontakt-)Zonen charakterisieren. Sowohl aus den bisherigen Blogbeiträgen als auch aus den Primärtexten geht hervor, dass die nördliche Polarregion in erster Linie eine Kontaktzone ist, deren Erforschung immer das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ethnien zur Folge hat, während die südliche Polarregion gerade von der Abwesenheit von Land, Tieren, Pflanzen, Orientierungsmöglichkeit und einer indigenen Bevölkerung ausgezeichnet wird.

Was in beiden Polarregionen unumgänglich ist, ist eine Charakterisierung der Fremde bzw. der ständige Versuch, das offenkundig Fremde und Unbekannte in bereits bekannte oder gar heimische Muster übertragen zu wollen. So wie Georg Forster versucht hat, der ewigen weissen Umgebung etwas Bekanntes abzugewinnen, so wird die von Chamisso vorgefundene Flora und Fauna dermassen detailliert beschrieben, dass alle Rezipient*innen – von Fachleuten einmal abgesehen – sich eigentlich nichts mehr unter diesen Beschreibungen vorstellen können. Im Versuch, das Fremde zu beschreiben und näher zu bringen, schafft es Chamisso, sie durch die Flut an Fachausdrücken in einem Anflug von Taxonomie noch fremder zu gestalten. Dem gegenüber steht das Unterfangen, das Fremde zwar beschreiben zu wollen, sich dabei aber nur an heimischen Inspirationsquellen zu orientieren, wodurch sich im Text ein ganz neuer Diskurs des Fremden eröffnet. Dies wird bei folgenden Abschnitten ersichtlich:

«Selten hat mich eine Herborisation freudiger und wunderlicher angeregt. Es war die heimische Flora, die Flora der Hochalpen unserer Schweiz zunächst der Schneegrenze, mit dem ganzen Reichtum, mit der ganzen Fülle und Pracht ihrer dem Boden angedrückten Zwergpflanzen, denen sich nur wenige eigentümliche harmonisch und verwandt zugesellten.» (S. 175)

Das gezielte Suchen von Heimatlichem in der Fremde, also Bekanntem im Unbekannten, mag zwar die Beschreibung erleichtern oder bestimmten Rezipient*innen einen Anhaltspunkt zum besseren Verständnis der Beschreibungen liefern, es entsteht dabei jedoch der Eindruck, dass es Chamisso schwer falle, die Polarregionen als etwas nicht bereits von Europa determiniertes und blosse Variation des Heimatkontinents zu sehen. Erneut lässt sich ein Vorgang von Ent- und Rekontextualisierung beschreiben, wenn es Chamisso nur mit einem Verweis auf die Alpen gelingt, die nicht europäische Herborisation zu beschreiben. Ähnlich wie schon bei den Mammutzähnen und Menschenschädeln werden Entdeckungen von Chamisso selten ohne einen Verweis auf die europäische Sichtweise, Verwendung oder Auffassung der zu beschreibenden Gegenstände geschildert.

Literatur:

  • Chamisso, Adelbert von: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Feudel, Werner und Laufer, Christel. Bd. 2. München / Wien 1982. 

Titelbild: Der Hafen von Unalaska, gemalt im Sommer 1816 von Ludwig Choris während der Rurik-Expedition.