Social Psychology @ UZH

Social Behavior in a Digital Society

Dank Anonymität kannst du in sozialen Medien ganz du selbst sein

28. October 2016 | Johannes Ullrich | Keine Kommentare |

Von Roman Müller

Entfernt uns die Nutzung sozialer Medien von unserem wahren Selbst? Identifizieren wir uns immer stärker mit unseren Äusserlichkeiten, weil unsere Selbstwahrnehmung fortlaufend damit beschäftigt ist, das ideale Selfie zu schiessen und unter hunderten von Urlaubsfotos dasjenige zu finden, auf welchem unsere Schokoladenseite am besten zur Geltung kommt? Schon früh wurde Kritik an neuartigen Kommunikationstechnologien geäussert mit der Befürchtung, dass sich der Mensch in eine immer tiefere Abhängigkeit der Technologie stürzt und sich immer weiter von seiner ursprünglichen Natur entfernt. So behandelte schon Platon in seinem Dialog Phaedrus die Nachteile der Einführung der Schrift, so z. B. dass die Menschen vergesslicher würden und ihre Authentizität verlieren könnten. Im heutigen Zeitalter der digitalen Revolution, in welchem sich die Kommunikation immer stärker auf das Internet verlagert und von sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Blogs, Chatrooms, Foren und Videoplattformen beherrscht wird, werden ähnliche Befürchtungen und Fragen aufgeworfen.

Personen, die grossen Wert auf ihr Äusseres legen, sich stundenlang mit ihrer Frisur beschäftigen und in jedem Schaufensterglas einen verstohlenen Blick auf ihr Erscheinungsbild werfen, gelten häufig als oberflächlich. Schliesslich sind es ja die inneren Werte, die wirklich zählen! Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich die Idee, dass das „wahre Selbst“ – d. h. die authentische, mit den eigenen Wünschen und Wertvorstellungen übereinstimmende Selbstauffassung einer Person – von aussen nicht ohne Weiteres zugänglich sei, wobei das äussere Erscheinungsbild einer Person als künstlich, verfälschbar und entschieden weniger wichtig empfunden wird. Dem Anthropologen Daniel Miller fiel jedoch auf, dass diese Auffassung nicht von allen Kulturen geteilt wird, sondern lediglich charakteristisch für unsere westliche Kultur ist. So argumentiert Miller, dass egalitäre Kulturen wie beispielsweise die Bevölkerung von Trinidad ein genau umgekehrtes Selbstbild teilen. Für sie liegt das wahre Selbst auf der Oberfläche, weil dieser Teil für alle offen zugänglich ist und von allen bewertet werden kann. Da sich das innere Selbst hingegen der öffentlichen Überprüfung entzieht und somit anfällig für Täuschung ist, wird es auch als weniger authentisch angesehen. Möchte ein Trinidadianer demnach etwas über eine Person oder sogar über sich selbst erfahren, wird er grosse Aufmerksamkeit auf das Erscheinungsbild dieser Person legen.

Wie steht es nun mit der Befürchtung, dass wir uns aufgrund von sozialen Medien wie Instagram, Facebook und Co. immer stärker mit der Aussen- anstatt der Innenperspektive identifizieren und uns vielleicht sogar einem Selbstverständnis annähern, wie es der Bevölkerung von Trinidad entspricht? Dass soziale Medien unseren Aufmerksamkeitsfokus nicht immer nur auf unser Äusseres richten müssen, sondern durchaus auch unser wahres Selbst zum Vorschein bringen können, wird spätestens dann deutlich, wenn das Augenmerk auf eine besondere Eigenschaft des Internets gerichtet wird: die Anonymität. Das Internet ermöglicht es wie kaum ein anderes Kommunikationsmedium, anonym mit anderen Personen in Kontakt zu treten. Im Schatten der Anonymität, fernab des eigenen Erscheinungsbilds, können sich Personen über Dinge unterhalten, die so persönlich sind, dass es im „realen“ Leben kaum jemand wagen würde, sie jemals anzusprechen. Durch die Anonymität können wir uns verbergen, müssen uns weniger vor sozialen Sanktionen fürchten und können dadurch unsere geheimsten Wünsche, Einstellungen und Ängste äussern und manchmal sogar verborgene Charakterzüge ausleben.

So berichtet Klara (der wahre Namen bleibt zwecks Anonymität unerwähnt) von ihrem Blog, welchen sie seit Monaten unter einem Pseudonym führt. Der Blog ermöglicht es ihr, sich in einem geschützten Raum mit Gleichgesinnten über ihr Outing zu unterhalten und von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten – Erfahrungen, die sie ohne den Schutz der Anonymität wohl nur wenigen Ausgewählten mitteilen würde. Die Anonymität kann somit als eine Art Maske dienen, die unsere Person zwar verbirgt, uns aber dadurch ermöglicht, unser wahres Selbst auszudrücken. Um es mit den Worten von Oscar Wilde zu sagen „Give a man a mask and he will show his true face.” So fanden beispielsweise Bargh und Kollegen (2002) in einem Experiment, dass Personen, die sich 40 Minuten lang miteinander in einem anonymen Online-Chat unterhielten, in einem stärkeren Ausmass ihr wahres Selbst präsentierten als Personen, die sich bei ihrer Unterhaltung direkt gegenüber sassen. Dabei wurde das Ausmass des präsentierten wahren Selbst durch den Vergleich der Selbsteinschätzung des Probanden (sollte Eigenschaften nennen, die er besass und eigentlich gerne ausdrücken würde, sich dazu jedoch nicht in der Lage sah) mit der Fremdeinschätzung des jeweiligen Gesprächspartners nach der Unterhaltung ermittelt. Den Autoren zufolge waren die Personen im Online-Chat weniger gehemmt, ihr wahres Selbst offenzulegen, weil sie anonym waren und die Gefahr, sich bloss zu stellen, somit deutlich reduziert wurde. Zudem mussten sie sich dank der Anonymität nicht so verhalten, wie es normalerweise von ihnen erwartet wurde.

Die Befunde zeigen, dass unsere wahre Identität durch die Nutzung von sozialen Medien noch nicht vollkommen verloren ist und sich auch nicht zwingend an dem Selbstverständnis egalitärer Kulturen annähern muss. So hängt der Einfluss von sozialen Medien auf unsere Selbstwahrnehmung hauptsächlich von der ausgewählten Plattform ab und demnach davon, ob Anonymität verhindert oder gefördert wird. Erst durch den Schutz der Anonymität können wir unser wahres Selbst ungehemmt in Erscheinung treten lassen und brauchen uns nicht davor zu fürchten, dass wir mit unserer Authentizität auf Ablehnung stossen könnten. Die Befürchtung, dass sich der Mensch durch soziale Medien immer weiter von seinem wahren Selbst entfremdet, scheint demnach weitgehend unbegründet. Auch wenn soziale Medien wesentlich die Art und Weise verändern, wie wir miteinander kommunizieren, welche Aspekte wir von uns preisgeben und wie wir uns schliesslich selbst wahrnehmen, bleibt es immer noch in der Kontrolle des Nutzers, welche Plattformen er verwenden will. Warum tauchst du also nicht einmal in die Anonymität ab und bist ganz du selbst?

 

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