Arabidopsis und Primula, die Tanzimprovisator*innen

Arabidopsis und Primula, die Tanzimprovisator*innen

56. Jahrgang, Nr. 4, Juli 2022

Briefe aus dem Botanischen Garten der Universität Zürich

Ein Beitrag von Andrea Haenggi

Andrea Haenggi lebt und arbeitet in New York und Zürich. Sie ist Künstlerin, ”Embodied Scientist“, Choreografin und arbeitet in Zusammenarbeit mit dem Botanischen Garten der Universität Zürich am Pflanzen-Mensch-Forschungsprojekt Speed Dating with a Plant, sowie an Workshops, welche sie während ihren Forschungsaufenthalten leitet. Hier stellt sie ihre Eindrücke vor:

Die Pflanzenexpert*innen: Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana (L.) Heynh.) und Primel (Primula vulgaris Huds.) bestimmten das choreographische Ziel und die Struktur meiner Workshops für die Gartenlehrer*innen am Botanischen Garten im März 2022. Weshalb diese beiden Pflanzen? Sie laden uns ein, Strategien für das Hören und Reagieren zu entdecken, teilzunehmen, ihre Handlungen und Geschichten in der Garten-Ökologie wahrzunehmen. Sie fordern eine Art des Hörens ein: «Du bist hier, um durch deinen menschlichen Körper zu erkennen, zu fühlen und in Aktion zu sein mit uns, den Pflanzen.»

Aber von vorn: Es ist früher Frühling im 2019, ein Jahr bevor die Wahrnehmung der Zeit für uns Menschen durch COVID-19 verändert wurde. Es ist die Woche vom 1. April und ich treffe und befreunde mich mit der Acker-Schmalwand. In diesem ersten Pflanzen-Mensch-Forschungsaufenthalt am Botanischen Garten zeigst du mir mit der Zeit mehr und mehr von deiner Art in der Welt zu sein. Jetzt, am 28. März 2022, frage ich dich: Ist neues Wachstum aus den Samen von 2019 gesprossen? Ich halte inne und warte auf dich am Rand des Mittelmeergartens. Hier ist kein neuer Beginn – nur ein aktiver Zustand der Fortsetzung: Krümmst du dich um die Steine, kriechst und klimmst immer noch, das Geröll umgarnend? Dein dünner Stängel erhebt sich von einer haarigen Blattrosette zu einem Büschel von schmächtigen, weissen Blüten, unauffällig winkend, mit lebhafter und unmittelbarer Gestik, Seite an Seite angetrieben vom Wind. Hält diese Spannung – Abwärtsneigung und Aufwärtsstreckung – deine Vibrationen nahe bei dir? Ich sehe dich nicht – siehst du mich? Durch unsere Freundschaft lernte ich, nicht schauen zu gehen. Im Botanischen Garten schauen die Leute oft, um eine Pflanze zu erkennen, sie schmecken, riechen, berühren. Präsenz für dich, Acker-Schmalwand, verlangt nach einer Alternative der Wahrnehmung: Die Bewegung mit dir und das Bewegt-Sein durch dich, ein kinästhetisches Hineindrehen durch Bewegung und Atem.

Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) am Rand des Mittelmeergartens im Botanischen Garten.
Foto: Andrea Haenggi

Ich stelle meinen Körper zurück, um der Pflanzensprache zuhören zu können: Spannung abschütteln, begleitet von fliessenden, vibrierenden Ganzkörperschwingungen, mit den Pflanzen atmen und die Knochen in den Boden schmelzen lassen, verwurzeln mit dem Boden. Mein Körper erreicht langsam einen Zustand des Nicht-Wissens, einen Ort der Erweiterung und Bereitschaft, aufzunehmen. Ich sinke in die Hocke: Die Zusammensetzung der Pflanzen – die ausgepflanzten wie die spontanen heissen mich in diesem näheren Bestaunen willkommen – ist fast überwältigend. Mein Atem wird mild, vereinigt sich mit dem Boden, meine Hände bewegen sich improvisierend in und um diese dynamische Komposition, die verschiedenen Pflanzenformen, Texturen und Bewegungen herum. Hier bist du – Überraschung, Freude: Ein einsamer und federiger Wächter eingebettet zwischen den Steinen. Meine Hand formt eine Höhle, um dich besser zu spüren, mehr Zartheit, mehr Impulse, der Rhythmus der Bewegung entsteht. Du bist kaum so gross wie meine Hand, deine Blätter sind dünner als meine Venen, dein einziger aufsteigender Stängel, der die Blüten trägt, ist strohdünn. Du hast einen Gefährten einen Schritt weiter, schräg unten am kiesigen Rand. Wie geht es dir?

Selina Knöpfli, eine Mitarbeiterin am Botanischen Garten, die sich an dieser verschlungenen Pflanzen-Mensch-Forschung beteiligt, bringt mich zu ihren alten Freund*innen, den Primeln, welche verstreut im schattigen, feucht-moosigen Boden seitlich vom Heilpflanzengarten wurzeln. Es ist kein Zufall, dass hier spontan so viele Primeln wachsen – einem mit ihren Pastellfarben das Herz erweichend – und ihre Heilungskräfte für unser körperliches und seelisches Wohlbefinden anbieten. Kein Wunder, dass Italien als Symbol die Primelgewächse benutzte, um die Impfbotschaft zu verbreiten.

Begegnung mit einem Primel (Primula vulgaris) während des Gartenlehrer*innen-Workshops.
Foto: Claudia Winteler

Hinter der Villa wachsen die Primeln tief am Boden und flauschig, stabil mit ihrem Dom aus Blüten und Blättern. Die hellgelben Blütenbüschel rufen mich zu sich, laden mich ein, die Position von Selina zu übernehmen, auf dem Bauch liegend die Feuchtigkeit der Pflastersteine spürend, die sich in uns hineinpressen – mit den Primeln zwischen den Steinen, an den Wänden, auf der Treppe und der Wiese, welche uns Tiefgründiges über ihr Pflanzenleben erzählen. Bestimmt waren dies einst Kultivaren, ehe sie entkamen, entkamen, entkamen… und ihre eigene Wirksamkeit entfalteten. Jeden Tag formen sich Blätter um Blüten und Blüten um Blätter und Selina sagt zu mir: «Du möchtest stets mit ihnen kuscheln.» So wahr! Meine Hand streicht sanft durch 25 versammelte Blüten – ich bin nicht sicher, ob dies eine oder viele Primeln sind, denn sie tanzen rhizomatisch in der Erde. Berührung und Bewegung sind zugleich Teil dieser Erfahrung. «Kuscheln»: ein Ort der Zuwendung, der Freundlichkeit ist notwendig um Vertrauen, Freude und Sanftheit zwischen allen Teilnehmerinnen des Workshops zu schaffen; menschlichen und mehr-als-menschlichen Teilnehmerinnen. «Hat sich deine Beziehung zu deiner alten Pflanzenfreund*in nach dem Workshop geändert?» Selina: «Ich realisierte, dass diese Pflanze auch auf eine Art zittrig ist. Üblicherweise bricht sie aus, wächst überall problemlos und wirkt sehr stabil. Als ich aber dort auf den Steinen lag, begann die Pflanze zu mir durch ihre rasche Bewegung in einem Windstoss zu sprechen. Jetzt sage ich: oh, das gehört auch zu dir… Ich sah diese rasche Bewegung, von welcher ich nicht glaubte, dass die Pflanze sie zeigen oder von sich geben könnte… Ich habe eine alte Freundin, die eine andere Qualität zeigte – ich erfuhr etwas mehr von dieser Pflanze.»

Hinter der Villa Rainhof drängen sich Primeln (Primula vulgaris) zwischen den Steinen hervor.
Foto: Andrea Haenggi

Diese zwei frühblühenden Arten gedeihen beide, wo Land gerodet worden ist – sei es durch Stürme, Störungen oder menschliche Kultivierung. Beide sind mit den Menschen tief verbunden und dennoch sind sie grundverschieden: Die Acker-Schmalwand erfordert von uns Menschen eine nahe Aufmerksamkeit durch Bewegung, um sie zu registrieren, mit einem flexiblen Faden von Stängel voller Kraft und Biegsamkeit, anwesend nur während einer kurzen Zeit, während die Primel in Farbe ausbricht und einen dennoch warnt, dass ihre Identität viel mehr beinhaltet als Farbe, Behagen und eine flauschige Erscheinung. In unserer Kultur werden Pflanzen oft als statische und passive Objekte und nicht als bewegungsreiche Lebewesen wahrgenommen. Deshalb lieben wir es, diese Pflanzenexpert*innen zu erkennen, die so grosszügig den Workshop als tänzerische Improvisator*innen leiteten. Wir tanzen in unserer Verschiedenheit.

Weitere Informationen zu Andrea Haenggi finden Sie unter weedychoreography.com