«Jede COVID-Impfung ist eigentlich eine Auffrischimpfung»

«Jede COVID-Impfung ist eigentlich eine Auffrischimpfung»

Ab dem 10. Oktober können in erster Linie besonders gefährdete Personen, aber auch alle anderen Personen ab 16 Jahren, eine Covid-19 Auffrischimpfung erhalten. Welchen Personen diese empfohlen wird, zu den Hintergründen der Impfempfehlung und den Unterschied zu unseren Nachbarländern berichten Milo Puhan und Christoph Berger im Interview.

Milo: Wie sieht die Grundimmunität der Personen in der Schweiz aus? 

Wir haben in der Schweiz und allen Landesregionen eine sehr hohe Immunität. Das äussert sich einerseits dadurch, dass fast alle Antikörper entwickelt haben als Folge einer Infektion und oder einer Impfung. Und wir sehen auch, dass es eine deutliche Mehrheit hat, die sowohl eine Infektion wie auch eine Impfung gehabt haben, was zusammen – was man heute weiss – den besten Schutz zumindest vor einer schweren Erkrankung darstellt. 

Und worauf ist diese zurückzuführen?

Einerseits auf die Impfung, welche relativ viele Menschen gemacht haben oder auch die Auffrischimpfungen. Und andererseits hat Omikron einen riesigen Unterschied gemacht: Es gab im letzten Herbst bis Ende 2021 nicht viele Leute, die beides gehabt haben – also eine Impfung und eine Infektion. Schon einige, aber es waren deutlich weniger. Omikron hat halt sehr viele Leute infiziert. Häufig auch mehr als einmal. Und das hat einen sehr deutlichen Unterschied gemacht im Vergleich zum Ende letzten Jahres. 

Christoph Berger: Welche Auswirkungen hat die Grundimmunisierung der Personen in der Schweiz auf die bevorstehende neue Covid Welle im Herbst und Winter?

Es ist eben nicht nur die Grundimmunisierung, sondern es sind die Impfungen und die Infektion. Der Grossteil der Bevölkerung hat sich mit diesem Virus auseinandergesetzt. Und im Unterschied zum Beginn der Pandemie, da hatte niemand Antikörper während jetzt praktisch alle Personen Antikörper haben. Und wahrscheinlich sind es noch mehr Personen, da man die Antikörper nicht (mehr) bei allen nachweisen kann. Das heisst, wir haben nicht mehr eine Pandemie-Situation, weil es eine grundsätzliche Immunität in der Bevölkerung schon gibt. Die ist kein vollständiger Schutz, aber sie schützt vor vielen schweren Infektionen. 

Und was hat das jetzt für die Impfempfehlung für eine Bedeutung? 

Wir müssen vor allem die besonders gefährdeten Personen gegen COVID impfen. Das sind diejenigen, die schwer an COVID erkranken, hospitalisiert werden oder Komplikationen haben. Wer das genau ist, haben wir ja während der Pandemie kennengelernt. Und diese haben immer noch ein hohes Risiko für schwere Infektionen. Nicht so hoch wie am Anfang. Aber weil der bestmögliche Schutz vorrübergehend gegeben ist, und dann, wenn sich das Virus stark ausbreitet, da sein sollte, können wir diese Personen genau dann vorübergehend vor schweren Infektionen schützen. Diese Personen können und wollen und sollen wir schützen. Dies ist ähnlich wie bei der Grippe: Die gesunde Bevölkerung hat ein kleines Risiko a priori schwer zu erkranken, und das ist jetzt nochmals wesentlich kleiner. Es besteht für sie kaum ein Risiko hospitalisiert zu werden, auch ohne Auffrischimpfung. Auch von diesen Personen kann sich schützen, wer das will.

Die gesunde Bevölkerung kann sich impfen, wenn die Personen das wollen oder nicht ausfallen wollen, wie beispielsweise das Gesundheitspersonal. Dieses Risiko kann man reduzieren, etwa um ein Drittel mit einer Impfung aber nicht mehr. Da sind wir transparent, jede/r kann das machen, das steht jedem offen. Aber der Fokus liegt auf dem Schutz der gefährdeten Personen vor schwerer Erkrankung, den können wir vorübergehend mit einer Impfung optimieren. 

Und wer sind diese besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen?

Also die über 65-Jährigen. Noch mehr die über 80-Jährigen. Das haben wir im Sommer gesehen. Und das sind schwangere Frauen und Menschen mit gewissen chronischen Krankheiten, wie Übergewicht, kardiovaskulären Erkrankungen, schwere Lungenerkrankung etc. und insbesondere die Kombination von Alter und diesen Grundkrankheiten. Das ist auch nicht unbedingt alles COVID spezifisch. Das sind Personen, die wenn sie krank werden, einfach rasch hospitalisiert werden. Weil die dann instabil sind. 

Milo: Und wie kommt diese Zahl von rund 97% Grundimmunität eigentlich zustande? 

Hierfür untersucht man eine repräsentative Auswahl aus der Bevölkerung. Das haben wir in Zürich, Tessin und Waadt jetzt in diesem Jahr gemacht. Diese Personen haben wir zu einer Untersuchung eingeladen. Wir haben das Blut untersucht und nachgewiesen, ob spezifische Antikörper gegen das SARS-CoV-2 Virus vorhanden waren. Infektion und Impfung führen zu dieser Antikörper-Antwort, die wir dann eben nachweisen konnten. Und durch eine Kombination von Befragung und noch weiteren Test konnten wir dann herausfinden, ob es eine Infektion war, eine Infektion plus Impfung oder die Impfung, die zu Antikörpern geführt hat. Und insgesamt sind es 97 Prozent dieser rund 2500 Teilnehmenden von dieser Phase von Corona Immunitas dieses Jahr, die nachweisbare Antikörper hatten gegen SARS-CoV-2. 

Christoph Berger: Wird dann trotzdem noch bestimmten Bevölkerungsgruppen – und wenn ja welchen – eine Auffrischimpfung empfohlen? Und mit welcher Begründung? 

Wir empfehlen diese Auffrischimpfung. Und in der Situation, die wir jetzt haben, ist eigentlich jede COVID-Impfung eine Auffrischimpfung, weil es ja eine bestehende Immunität gibt. Wir empfehlen die in einer Phase grosser Virusausbreitung den besonders gefährdeten Personen. Das sind die genannten Personen über 65 Jahre und Personen mit den für COVID definierten Risikokrankheiten. Hierzu zählen auch Schwangeren. Und wir empfehlen sie auch schwer immungeschwächten Personen. Diese sollen das mit ihren Ärztinnen und Ärzten besprechen, wie weit sie Antikörper bilden können oder Antikörper anstatt einer Impfung brauchen oder Medikamente. Alle diese Optionen müssen in jeden Fall individuell adressiert werden, damit man sie optimal schützen kann. 

Der gesunden Bevölkerung steht eine Impfung offen. Für die, die sich selber schützen wollen. Sie erreichen keine Verhinderung einer Infektion oder einer Virusübertragung. Es geht hier um den individuellen Schutz. 

Werden auch bestimmten Bevölkerungsgruppen die Auffrischimpfung nicht mehr empfohlen? 

Das sind die Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. 

Wie unterscheidet sich die Impfempfehlung in der Schweiz mit unseren Nachbarländern? Und mit welcher Begründung?

Milo: Kanada macht es ähnlich wie die Schweiz mit abgestufter Stärke der Empfehlung je nach Bevölkerungsgruppe und Gefährdungsgrad. Andere Länder wir Deutschland gehen nun auch in diese Richtung statt einfach wie vorher fast allen Personen eine Booster- bzw. Auffrischimpfung zu empfehlen. 

Wir sehen den Unterschied, dass in der Schweiz mehr differenziert wird. Das führe ich auch darauf zurück, dass es nicht mehr so viele Länder gibt, die so viel Wissen über die Immunität in der Bevölkerung haben. Das wissen wir dank Corona Immunitas. Es gibt nicht viele Länder, die das so differenziert anschauen können – nicht nur Antikörper, sondern eben auch Neutralisation, Bestimmung der Hybridimmunität – also Impfung und Infektion.

Also ich glaube auf dieser Grundlage lässt es sich auch leichter eine differenziertere Impfempfehlung machen, als wenn man das Ausmass der Immunität in der Bevölkerung nicht weiss. 

Christoph Berger: Gerade kürzlich sind die deutschen Impfempfehlungen kommuniziert worden. Die sind sehr ähnlich. Da gibt es Detailunterschiede, wie beispielsweise, dass die Deutschen ab 60 anstatt 65 Jahren eine Impfung empfehlen. Solche Unterschiede gibt es immer. Die Deutschen haben schon länger eine sogenannte «Vierte Dosis» empfohlen und sie bleiben an dem und unterstützen das jetzt noch einmal. Und sie machen eine Altersgrenze nicht bei 16 Jahren wie in der Schweiz, sondern bei 12 Jahren. Aber das sind kleine Unterschiede, inhaltlich ist es dieselbe Richtung. 

Christoph Berger: Warum hat man in der Schweiz andere Impfempfehlungen? 

Es gibt hervorragende Daten zur Wirksamkeit der Impfung. Das ist immer schwieriger zu beurteilen, weil wir ja keine Kontrollgruppe von Naiven haben. Hier gibt es die besten Daten aus England. Die Engländer stellen das hervorragend zusammen mit einem riesigen Aufwand. Aber wir in der Schweiz haben – genau was Milo zuvor gesagt hat – diese Immunitätsdaten aus einer Schweizer Kohorte. Wir müssen, dürfen und sollen uns darauf abstützen. Daher können wir das für die Schweizer Bevölkerung so präzise machen. Ich bin kein Fan von Zählen von Impfdosen. Weil wir ja nicht wissen, wer wievielmal infiziert war und die betroffenen Personen wissen das ja zum Teil selber nicht. Das ist eine Pseudogenauigkeit, wenn man zählt. Darum haben wir in der Schweiz nie «vierte Impfung» geschrieben, sondern immer nur von «Auffrischungsimpfung» gesprochen. Da ich glaube, dass das richtiger ist in Bezug auf die Epidemiologie und die Immunität. Und das macht es viel einfacher. Wir sind ja auch in einem Übergang in eine Endemie. Und mit dem tragen wir Rechnung.

Kann man schon abschätzen, wie lange Auffrischungsimpfungen vulnerablen Bevölkerungsgruppen empfohlen werden? 

Milo: Wir gehen da wahrscheinlich in eine ähnliche Situation hinein, wie bei den Grippeimpfungen, wo man regelmässig Auffrischimpfungen erhalten kann. Aber in welchem Abstand diese Auffrischimpfungen dann empfohlen werden, finde ich noch schwierig vorherzusagen. Ob das wie bei der Influenza eher im Herbst oder so wird, oder zweimal pro Jahr, das weiss ich nicht. Aber ich glaube schon, solange wir mit diesem Virus zu tun haben, solange der Virus Personen krank macht, vulnerable Personen krank macht, wird diese Auffrischimpfung da sein. 

Christoph Berger: Davon gehe ich auch aus. Aber wovon wir wegkommen wollen und müssen – und das geht ein bisschen über die Impfempfehlung hinaus – es geht jetzt eigentlich um individuellen Schutz und natürlich am Schluss um die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Letztere wird ja beeinträchtigt durch die Hospitalisierungen primär. Also wenn wir die vulnerablen Personen schützen, dann haben wir weniger schwere Erkrankungen und weniger Hospitalisierungen. Das müssen wir ganz bestimmt weitermachen. Wie häufig wir das machen müssen und mit welchen Impfstoffen ist noch eine andere Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in ein paar Jahren nicht mehr mit den mRNA-Impfstoffen impfen, sondern vielleicht breiteren Impfstoffen, die nicht so Variantenspezifisch sind, weil es das gar nicht mehr braucht. Und weil wir mit der Spezifität immer hinten nachhinken mit der Korrektur des Impfstoffs. Und das geht dann viel breiter, so könnte ich mir vorstellen das zu antizipieren. 

Wichtig ist, dass wir die Impfung anbieten können. Die Impfung bringt weniger als in der Pandemie. Aber sie bringt den vulnerablen vorrübergehend einen guten Schutz. Und alles andere, wie diese Zertifikatsübungen, hoffe ich, dass wir das bald verabschieden können. 

Christoph Berger: Ist es sinnvoll sich gleichzeitig gegen Covid-19 und gegen Grippe-Viren impfen zu lassen? 

Ja. Wenn wir jetzt schauen, wie viele Kinder wir mit viralen Infektionen haben; wie das immer war vor der Pandemie jeweils im Herbst. Und zu den respiratorischen Viren gehört auch Influenza. Und es ist sehr eindrücklich, was Maskentragen auf die Influenza-Epidemie gebracht hat. Also nicht nur Maskentragen, sondern alle diesen Hygiene- und Verhaltensmassnahmen aus der Pandemie. Wenn wir die nicht mehr haben – und die wünschen wir uns ja weg – dann kommen diese Infektionen und ich würde wagen zu behaupten auch die Influenza wieder. Es gibt dann halt einfach zweimal Krankheitsfälle. Und wir haben eine COVID-Impfung, die ist mindestens so wirksam für die Vulnerablen wie die Grippeimpfung für die vulnerablen Personen für die Grippe. Und das Gesundheitssystem ist überlastet. Also ja, impfen gegen Grippe und auch Covid, so wie vorher beschrieben.

Und gibt es hier negative Wechselwirkungen – und wenn ja, welche konkret?

Nein. Es gibt jetzt bewusst eine Kampagne gegen Grippe und eine Kampagne gegen COVID. Und man kann sich das eine impfen lassen oder das andere oder beides. Und die, die wollen, können das gleichzeitig machen. Das ist aber kein kombinierter Impfstoff. Es ist nicht gefährlich, wenn man sich gleichzeitig beide impfen lässt. Es gibt keine Wechselwirkungen. 

Noch zwei ganz wichtige Punkte: 

Erstens, es spielt keine Rolle, welchen COVID-Impfstoff Personen nehmen, in Bezug auf was sie schon früher geimpft worden sind. Das ist völlig egal. Dies macht es für diejenigen etwas einfacher, welche etwas Spezielles wollen. Und für die Logistik macht es das auch leichter. 

Und zweitens, ist es wichtig die 4 Monate nach Infektion oder nach letzter Impfung einzuhalten. Sonst ist es zu früh und es besteht gar keine Gefahr in diesen vier Monaten. 

Interviewpartner:

Das Interview führte Anne Borchard

Neueste Ergebnisse aus Corona Immunitas finden sich hier

Quelle Titelbild: Bundesamt für Gesundheit (BAG)