Blog der Hauptbibliothek

Hirnanatomie und Rassismus

17. März 2018 | Esther Peter | Keine Kommentare |

Bis ins 20. Jahrhundert wurden an europäischen Universitäten Gehirne vermessen. Wissenschaftler suchten fieberhaft nach anatomischen Hinweisen für die Überlegenheit der weissen Rasse. In der historischen Sammlung der Hauptbibliothek findet sich ein frühes Beispiel dieser langen Tradition. Das unscheinbare Bändchen trägt den Titel Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Outangs verglichen und wurde 1837 vom bekannten Heidelberger Anatomen Friedrich Tiedemann (1781-1861) veröffentlicht.

Tiedemann wurde durch die Debatten im britischen Parlament zur Abschaffung der Sklaverei zu seinen Forschungen angeregt. Als Liberaler unterstützte er die Emanzipation der Sklaven und stellte die damals in der Wissenschaft weit verbreite Ansicht in Frage, dass Schwarze den Affen verwandtschaftlich näher ständen als Weisse. Sein Vorgehen war aufwändig. Für frühere Studien hatte er bereits Gehirne und Schädel von Europäern vermessen. Von seinem Sohn – ebenfalls ein Anatom – erhielt er ein in Weingeist eingelegtes Gehirn eines in Deutschland an den Pocken verstorbenen Schwarzen. Dieses Hirn wog und sezierte er sorgfältig. Tiedemann prüfte auch Unterschiede der Nervendicke und des Rückenmarks. In einer anatomischen Sammlung in Paris fand er weitere drei in Weingeist konservierte Gehirne von Afrikanern, die er als Vergleich hinzuzog. Zusätzlich zu den Gehirnen vermass er den Innenraum von Schädeln. Dazu griff er auf sein europäisches Netzwerk zurück. Er vermass mehrere hundert Schädel verschiedenster Herkunft aus anatomischen Sammlungen in ganz Europa – neben Afrikanern und Europäern verschiedenster Herkunft auch zahlreiche Asiaten und amerikanische Ureinwohner. Die Messungen führte er entweder selber durch oder liess sie durch die Kollegen nach seinen Vorgaben ausführen. Schliesslich verglich er die Resultate mit zwei Gehirnen von Orang-Utans.

Das Resultat erstaunt aus heutiger Sicht nicht. Tiedemann fand keine Ähnlichkeiten zwischen Afrikanern und Affen. Er stellte vielmehr fest, dass sich das Gehirn von Europäern und Afrikanern in Grösse und Gestalt nicht wesentlich unterscheidet. Tiedemann scheute sich nicht, aus seinen Erkenntnissen auch politische Schlüsse zu ziehen. Er verurteilte die Unterwerfung von Afrikanern als Sklaven aus wissenschaftlicher Sicht und argumentierte, die von anderen Anatomen und Naturhistorikern seiner Zeit festgestellten Unterschiede zwischen Afrikanern und Europäern in Intelligenz und Moral, seien nicht Veranlagung, sondern auf die Verhältnisse in der Sklaverei zurückzuführen. Die Studie von Tiedemann wurde noch viele Jahrzehnte referenziert. Längerfristig konnte er sich aber nicht durchsetzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die biologische Anthropologie an den europäischen Universitäten. Das Vermessen von Schädeln und anderen Knochen erlebte eine Hochkonjunktur. Rassentheorien wurden auch gesellschaftlich breit diskutiert und hielten sich bis weit ins 20. Jahrhundert – gerade in Deutschland mit fatalen Folgen für die Betroffenen.

E-book zum Thema: Der falsch vermessene Mensch / Stephen Jay Gold

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