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Vor hundert Jahren: In Zürich brechen die Pocken aus

8. März 2021 | HBZ | Keine Kommentare |

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Die Pocken waren über Jahrhunderte eine gefürchtete Infektionskrankheit. Keine Krankheit ausser der Pest forderte in der Geschichte Europas derart viele Todesopfer. In der Schweiz kam es 1921-1926 zum letzten Mal zu einer Pockenepidemie, die zum Glück vergleichsweise glimpflich ablief.

Verbreitung von Zürich aus in die ganze Deutschschweiz
Der erste Zürcher Pockenfall wurde am 8. Mai 1921 in Oerlikon angezeigt. Betroffen war eine 34jährige Frau, die nicht gegen die Pocken geimpft war. Bald wurde klar, dass es im Umfeld der Frau zu weiteren, Erkrankungen gekommen war, die unerkannt geblieben, beziehungsweise aufgrund des ähnlichen Krankheitsbildes mit den Windpocken (wilde Blattern) verwechselt worden waren. Es konnten nicht mehr alle Ansteckungswege nachverfolgt werden.

Bald wurden weitere Fälle aus den angrenzenden Stadtkreisen und aus den umliegenden Gemeinde gemeldet. Die Pocken verbreiten sich entlang der Bahnschienen in die nächsten grösseren Städte. Ab Dezember 1921 kam es im Glarner Industrieort Näfels zu einem grösseren Ausbruch. Später waren die Kantone Aargau und Bern stark betroffen. Die Westschweizer Kantone und Graubünden führten weiterhin obligatorisch Pockenimpfungen durch und blieben von grossen Ansteckungsherden verschont.

Karte aus: Otto Stiner, Impfung und Impfgegner, Basel 1924.

Atypisch milder Verlauf
Die ersten Zürcher Fälle waren typisch für die letzte Schweizer Pockenepidemie. Betroffen waren vor allem Junge und Ungeimpfte. Ein Grossteil der Erkrankten waren Kinder und unter 40jährige. Viele Junge waren nicht oder nicht genügend geimpft, da die meisten Deutschschweizer Kantone die obligatorischen Impfungen Ende des 19. Jahrhunderts auf Druck der Impfgegner abgeschafft hatten.

Hinzu kam, dass die in Zürich auftretende Variante der Pocken atypisch mild war. Ärzte berichteten, dass der Verlauf teilweise sogar weniger schwerwiegend war als bei den Windpocken. Dies führte zu entsprechend weniger Todesfällen, machte aber gleichzeitig die Diagnose sehr anspruchsvoll. Die milde Variante der Pocken war von den viel harmloseren Windpocken nur schwer zu unterscheiden.

Es war bekannt, dass die Sterblichkeit bei den Pocken stark variieren und sich während einer Epidemie verändern konnte. In Basel kam es im selben Jahr, bereits im März 1921, zu einer Pockenepidemie mit hoher Sterblichkeit.  Sie stand nicht im Zusammenhang mit den Zürcher Fällen, sondern wurde auf eine Einschleppung aus Frankfurt zurückgeführt. Innert kürzester Zeit gab es mehrere Todesfälle.  Die Ansteckungswege konnten nachverfolgt und die Epidemie gestoppt werden. Der milde Verlauf der Zürcher Epidemie hingegen scheint die Bekämpfung der Seuche eher behindert zu haben.

Wachsmoulage hergestellt 1921 von Lotte Volger, die damals am Kantonspitel als Moulageuse angestellt war. Als Modell diente die Patientin Frieda W. Foto: Moulagenmuseum
Dieses Foto aus der Sammlung des Pockenspezialisten Max Tièche (1878-1938) zeigt das akute Krankheitsbild einer anonymen Patientin. Während der Recherche zur Ausstellung fiel uns auf, dass es sich bei dieser Frau auf dem Foto um dieselbe Person wie bei der Wachsmoulage oben handeln muss (vgl. die Lokalisation der Pockenbläschen auf der rechten Hand) Foto: Moulagenmuseum

Isolierung im Pockenspital

Wo die Pocken diagnostiziert wurden, ergriffen die Zürcher Behörden strenge Massnahmen. Die Erkrankten wurden im kantonalen Pockenspital isoliert. Ihre Wohnungen, Betten und Kleider wurden desinfiziert. Kontaktpersonen, die nicht oder länger nicht mehr geimpft waren, wurden zur Nachimpfung aufgefordert. Das betraf neben Familienmitgliedern auch alle weiteren Hausbewohnerinnen und -bewohner sowie direkte und indirekte Kontakte am Arbeitsplatz. Nicht erkrankte Kontaktpersonen konnten aber nicht von der Erwerbsarbeit abgehalten werden, da Entschädigungen für den Lohnausfall nur im Krankheitsfall ausbezahlt wurden. Dies obwohl bekannt war, dass die Pocken bereits ansteckend sind, bevor Symptome aufgetreten sind.

Wie bei vielen Infektionskrankheiten waren die weniger Privilegierten stärker betroffen. In Zürich gehörte das dicht besiedelte Arbeiterquartier Aussersihl zu den Gebieten mit am meisten gemeldeten Fällen.

Pockenspital Oberstrass, ca. 1890. An diesem Standort befindet sich heute ein Gebäude des Tierspitals. Foto: Baugeschichtliches Archiv Zürich.

Die Epidemie flaut ab

Erst im Verlauf des Jahres 1923 – zwei Jahre nach Ausbruch der Epidemie –  besserte sich die Situation allmählich. Durch Erlass des Bundesrates wurde das Epidemiengesetzes im April 1923 angepasst. Für von den Pocken betroffene Ortschaften und Bevölkerungsgruppen konnte nun ein Impfobligatorium angeordnet werden. Auch in Zürich wurden daraufhin im grossen Stil Pockenschutzimpfungen durchgeführt. 1924 kam es nur noch zu einzelnen Fällen. 1925 wurden in der Stadt Zürich keine Pockenerkrankungen mehr gemeldet.

Insgesamt zählte man 1921-1925 in der Schweiz 5560 Erkrankte. 15 Personen starben, wovon 8 bei der Basler Epidemie von 1921, die nicht im Zusammenhang mit den Zürcher Fällen stand.

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