«Es gibt nicht eine Leitlinie für alle Fälle» 

«Es gibt nicht eine Leitlinie für alle Fälle» 

Zusammenfassung

Im zweiten Blogbeitrag zur Synthesekonferenz zum Nationalen Forschungsprogramm «Gesundheitsversorgung» (NFP74) beantworten Matthias Schwenkglenks und Agne Ulyte Fragen dazu, wie Leitlinien bei der Behandlung von Patienten in der Schweiz eingesetzt werden und wie die regionalen Unterschiede der medizinischen Versorgung in der Schweiz genau aussehen.  

Das Forschungsprogramm NFP74 hat das Ziel, die Schweizer Gesundheitsversorgung wirksamer und kosteneffizienter zu gestalten. Neben der stationären, ambulanten und mobilen Versorgung untersuchen auch einige Projekte die Schnittstelle bzw. sektorenübergreifende Versorgung – so auch euer Projekt 26 «Wissenschaftliche Evidenz beeinflusst regionale Unterschiede in medizinischer Versorgung weniger als vermutet». Was habt ihr Matthias in eurem Forschungsprojekt genau untersucht und was war genau das Ziel? 

Wir haben uns für die geographische Variabilität von Gesundheitsleistungen in der Schweiz interessiert. Unser Fokus lag auf Leistungen für chronische Erkrankungen. Zudem haben wir uns für die Bestimmungsfaktoren von solcher Variabilität und insbesondere den Einfluss von Leitlinien (Guidelines) und klinischen Empfehlungen interessiert. Immer mit dem Ziel, ob es hier Optimierungsmöglichkeiten gibt. 

Wie seid ihr vorgegangen? 

Wir haben das Projekt in 3 Hauptteile untergliedert: Im ersten Hauptteil ging es zunächst darum, einen Überblick über die Leitlinien-Landschaft in der Schweiz zu erstellen. Hierfür haben wir systematische Reviews erstellt. Auch haben wir uns die Qualität, Einführung und rechtlichen Aspekte von Leitlinien angeschaut. Die Ergebnisse hierzu haben wir auch publiziert. Für den zweiten Hauptteil haben wir dann aus diesen Leitlinien Indikatoren abgeleitet. Anschliessend haben wir dann geschaut, welche von diesen Indikatoren über die Krankenversicherungsdaten der Helsana – mit denen wir gearbeitet haben – abbildbar waren. Das waren, wie wir das ursprünglich eingeschätzt hatten, etwa 10%. Und für diese Indikatoren haben wir dann die geographische Variabilität und die verschiedenen Einflussgrössen, wie beispielsweise Versicherungsmerkmale, sozidemographische Merkmale, soziökonomische Merkmale und Versicherungscharakteristika angeschaut, wie die sich auf die Versorgungsforschung auswirken. Wir haben geschaut, ob es Muster gibt auch über Leistungen hinweg. Und im dritten Teil haben wir uns für medizinische und ökonomische Auswirkungen von einer besseren oder schlechteren Einhaltung von Leitlinien interessiert. 

Was sind die wichtigsten Resultate und was genau bedeutet das für die Forschung und die Praxis?

Die Variabilität war nicht sehr gross und es zeigte sich eher ein vergleichsweise einheitliches Bild. In der Literatur sind da international weit grössere Unterschiede beschrieben. Allerdings zu einem grossen Teil bei chirurgischen Leistungen. Dies war nicht unser Fokus. Zudem gab es keine einheitlichen geographischen Muster über die verschiedenen Leistungen hinweg: Es gab zum Beispiel nicht die Situation, dass in der Westschweiz immer mehr Leistungen in Anspruch genommen wurden und in der Ostschweiz immer weniger, wie man das vielleicht erwarten würde, da auf der Ebene der Gesamtgesundheitskosten diese Unterschiede existieren. Zudem scheinen Menschen in Managed-Care Modellen etwas Leitlinien-konformere Versorgung zu erhalten. Weiterhin haben wir gesehen, dass Menschen, die eine hohe Franchise haben, generell weniger Leistungen in Anspruch nehmen. Und zwar eben auch weniger Leistungen, die man unbedingt in Anspruch nehmen sollte, wie beispielsweise die regelmässigen Kontrollen bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes. Das ist problematisch. Da stellt sich die Frage, was da gesundheitspolitisch gemacht werden könnte. 

Und wie geht es nun weiter? 

Im Bereich Forschung sehe ich im Wesentlichen zwei Hauptbereiche: Zum einen sollte die Ursachen der Variabilität, die wir mit unseren Daten nicht erklären konnten, untersucht werden. Da stellt sich vermutlich die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen Patientinnen / Patienten und den Gesundheitsfachpersonen (Health Professionals) näher anzuschauen. Und die andere sehr wichtige Richtung wäre, diese Effekte von den Versicherungscharakteristika, die wir gesehen haben, vertiefter anzuschauen und auch kausale Aussagen zu machen. Das Wichtigste wäre, wenn andere verfeinerte Versicherungsmodelle – z.B. mit verfeinerten Anreizstrukturen mit differenzierten Franchisen – ausprobiert würden, diese wissenschaftlich zu begleiten. 

Sehen Sie hier das gesamte Interview mit Matthias Schwenkglenks:

Agne: Was sind klinische Leitlinien und wie werden diese definiert? 

In klinischen Leitlinien werden verschiedene klinische Studien systematisch integriert. Leitlinien geben Empfehlungen, wie spezifische Patienten mit spezifischen Erkrankungen behandelt werden sollten. Normalerweise werden die Leitlinien von medizinischen Fachgesellschaften erstellt. Das können internationale Fachgesellschaften sein, z.B. europäische oder auch nationale oder lokale in der Schweiz. 

Werden klinische Leitlinien bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten in der Schweiz eingesetzt?

Ja. Aber leider gibt es nicht eine Leitlinie für alle Fälle. Es gibt nicht Studien oder auch Empfehlungen für alle Patienten in verschiedenen Situationen. Auch die Patienten haben verschiedene Prioritäten oder Lebensbedingungen und vielleicht möchten nicht alle die gleiche Behandlung. 

Wie sieht die geographische Variation der Inanspruchnahme von Behandlungen für chronische Krankheiten aus? Kannst du mir hierzu ein oder zwei Beispiele nennen? 

Es gibt geographische Unterschiede in den Gesundheitsleistungen wahrscheinlich in allen möglichen Gesundheitssystemen. Wir haben 24 verschiedene Behandlungen angeschaut. Hierbei waren die Variationen nicht sehr gross: Zum Beispiel haben wir die verschiedenen Krebsvorsorge-Methoden angeschaut. Und die Dickdarm-, Brust- und Prostatakrebsvorsorge dann verglichen. Wir haben erwartet, dass die Dickdarmkrebsvorsorge die kleinsten regionalen Unterschiede aufweisen, da diese für alle Patienten empfohlen wird und fast alle Patienten davon profitieren. Bei Brust- und Prostatakrebsvorsorge hängt es mehr vom Patienten ab. Wir haben gesehen, dass die regionalen Unterschiede bei Dickdarmkrebsvorsorge kleiner sind als bei den anderen zwei Krebsarten. 

Und welche wirtschaftlichen und klinischen Auswirkungen hat diese unterschiedliche Inanspruchnahme?

Die unterschiedliche Inanspruchnahme bzw. die regionalen Unterschiede zeigen zum Teil, dass in manchen Regionen nicht alle Patienten diejenigen Behandlungen bekommen, die sie eigentlich brauchen. Auch bekommen manche Patienten zu viele Medikamente oder irgendwelche Behandlungen. Es ist nicht immer klar, was die Gründe hierfür sind. Es ist auch nicht immer möglich zu sagen, ob diese Unterschiede schlecht oder gut sind. Es gibt verschiedene Gründe für die Unterschiede: Sowohl Patienten als auch deren bevorzugten Behandlungen variieren. 

Gibt es etwas, dass dich bei den Resultaten besonders erstaunt hat?

Wir haben erwartet, dass die Behandlungen, die stark empfohlen werden und eine gute Evidenz aufweisen, vielleicht kleinere Unterschiede zwischen den Regionen haben. Aber das war nicht wirklich der Fall in unserer Studie. Und vielleicht ist ein Grund, dass eigentlich für alle Behandlungen, die wir angeschaut haben, die Unterschiede nicht sehr gross waren. Vielleicht auch, weil die Regionen in der Schweiz nicht so unterschiedlich sind, wie wir manchmal denken. 

Sehen Sie hier das gesamte Interview mit Agne Ulyte:

Das Interview führte Anne Borchard

Titelbild und Videobilder: http://www.nfp74.ch/de/das-nfp