«Wir wissen nicht, wie das bei älteren Krebspatienten funktioniert»

«Wir wissen nicht, wie das bei älteren Krebspatienten funktioniert»

Krebs kann jeden treffen. Auch ältere Menschen. Allerdings fehlt es bisher an Wissen zu Krebs bei älteren Menschen. Im Interview mit ges.UND? erzählt Esther Bastiaannet von den Hintergründen, den Unterschieden zu jüngeren Krebspatienten sowie ihrer Motivation zu «Krebs im Alter» an der Universität Zürich zu forschen.

Was ist deine Motivation für dieses Forschungsziel?

Vor ungefähr 15 Jahren nahm ich an einer internationalen Konferenz in Berlin zum Thema Krebs teil. Damals arbeitete ich noch in Leiden, Niederlanden. Mir fiel damals auf, dass es nicht viel Wissen zu Krebs im Alter gab. Die meisten Leute auf der Konferenz antworteten auf meine Frage zu älteren Patienten: „Wir wissen nicht, wie das bei älteren Krebspatienten funktioniert“. Das hat mich motiviert, mit dieser Patientengruppe zu arbeiten. Es mangelt diesbezüglich an Wissen. Das hat mich wirklich überrascht. Ich dachte, wir wüssten eine Menge. Aber es zeigte sich, dass wir das nicht tun.

Warum gibt es weniger Wissen über Krebs bei älteren Patientinnen und Patienten?

Erstens ist die Lebenserwartung in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. Die Menschen leben länger mit ihren Krankheiten, an denen sie, vor rund 10-15 Jahren noch gestorben wären. Die Onkologie ist also bei allen Patienten zu einer grösseren klinischen Herausforderung geworden.

Zweitens wurden nicht alle Patienten in der Vergangenheit – also vor 10-15 Jahren – in klinische Studien aufgenommen. Es war zu schwierig, da man Angst hatte, dass die Patienten an den Therapien sterben könnten. Ältere Menschen haben oftmals mehr Nebenwirkungen. All diese Patienten wurden von den damals üblichen Therapien, wie Chemotherapie oder Hormonbehandlung, ausgeschlossen. Wir hatten keine Behandlungsrichtlinien für ältere Patienten. Und jetzt wird es zu einem klinischen Problem. Es wird immer deutlicher, dass wir wenig Wissen über ältere Patienten haben und darüber, wie wir sie behandeln sollen.

Was ist genau der Unterschied von Krebs bei älteren im Vergleich zu jüngeren Menschen?

Es gibt viele Unterschiede.

Die Biologie der Tumore bei älteren Menschen ist anders. Es gibt Diskussionen darüber, ob Tumore bei ihnen wirklich langsamer wachsen oder nicht.

Auch gibt es unterschiedliche Tumor-Subtypen. Beispielsweise wissen wir, dass ältere Patienten mit Brustkrebs mehr von einem bestimmten Subtyp (Luminal Subtyp) aufweisen. Dieser Subtyp ist weniger aggressiv als andere Subtypen.

Ältere Krebspatienten leiden oftmals zusätzlich noch an anderen Krankheiten. Hierdurch kann es zu einer Verzögerung der Krebsdiagnose kommen. Die anderen Krankheiten können die Krebssymptome überdecken. Ältere Patienten kommen also mit einer höheren Krankheitslast in die Praxis. Und sobald die Diagnose gestellt ist, gibt es viele Unterschiede in der Behandlung.

Im Allgemeinen werden jüngere Patienten aggressiver behandelt. Sie erhalten eine Operation oder eine Chemotherapie. Eigentlich bekommen sie alles, was medizinisch möglich ist. Bei älteren Patienten ist das anders. Manchmal wird die Operation weggelassen. Die Chemotherapie ist schwieriger und die Hormonbehandlung ist mit mehr Nebenwirkungen verbunden. Nach der Behandlung treten häufig mehr Komplikationen und Nebenwirkungen auf. Das alles führt zu einer geringeren krebsspezifischen Lebenserwartung. Es ist noch viel zu tun für die älteren Patienten.

Um mehr Wissen über Krebs bei älteren Patientinnen und Patienten zu erhalten, forschst du in verschiedensten Bereichen und bist Autorin bzw. Mitautorin zahlreicher Studien.

Was sind aktuell deine wichtigsten Forschungsprojekte?

Zum einen arbeiten wir an einem Projekt zu Hautkrebs (Melanom). Dabei untersuchen wir, auf welche Weise jüngere und ältere Menschen Metastasen entwickeln, sei es lokal oder in den Lymphknoten oder als Fernmetastasen. Wir glauben, dass es bei jüngeren und älteren Erkrankten unterschiedliche Muster gibt. Beispielsweise wird das Immunsystem bei älteren Menschen im Laufe der Zeit schwächer, so dass bei ihnen mehr Fernmetastasen auftreten könnten. Und wir sehen auch, dass sie weniger Lymphknotenmetastasen haben. Wir versuchen anhand von Beobachtungsdaten herauszufinden, ob sich Hautkrebs anders bei jüngeren als bei älteren Patientinnen und Patienten im Körper ausbreitet.  

Zweitens schauen sich unsere Studierenden internationale Daten von älteren Menschen mit gastrointestinalen Tumoren an. Wir haben Daten aus fünf Ländern. Diese Daten vergleichen die Behandlung und das Überleben von Patienten im Alter von 65 Jahren.

Beim Dickdarmkrebs wollen wir die biologischen Alterskomplikationen untersuchen. Wir denken, dass Menschen, die ein höheres biologisches Alter (als ihr Kalenderalter) haben, mehr Komplikationen entwickeln. Dafür haben wir bereits mehrere Anträge eingereicht. Bisher allerdings ohne Erfolg. Wir hoffen aber, diese Kohorten in den nächsten Jahren aufbauen zu können.

Bei Brustkrebs schaut sich unsere Doktorandin Dafne Sanchez die Literatur einiger Kohortenstudien an, um zu sehen, ob dort eine Messung der Frailty – auch als multidimensionales geriatrisches Syndrom bezeichnet – verwendet wird. Und wenn ja, welche. Frailty kann man auf verschiedene Weise messen. Man kann zum Beispiel einen Komorbidität-Score verwenden oder auch eine Art Test, bei dem die Patientinnen oder der Patient aufstehen und ein Stück gehen müssen, um zu sehen, wie schnell sie das tun. Aber das ist bei Kohortenstudien schwierig. Deshalb sucht Dafne Sanchez in unterschiedlichen Studien danach, wie andere Studienautoren damit umgehen. Und ich hoffe, dass wir einen Hinweis bekommen, welche Methode wir wann möglichst anwenden sollten. Bei den Brustkrebspatientinnen wollen wir uns auch die Überlebenden ansehen – speziell die älteren Patientinnen -, um festzustellen, ob es bei ihnen im Laufe der Zeit zu einem funktionellen, sozialen oder kognitiven Rückgang kommt.

Welche Massnahmen habt ihr hier genau untersucht und wie sehen genau die Ergebnisse aus?

Bei Brustkrebs haben wir uns mit der Strahlentherapie nach der Operation befasst. Wir nahmen alle Krankenhäuser in den Niederlanden – 90 an der Zahl – und teilten sie in drei Gruppen ein: Eine Gruppe erhielt viel Strahlentherapie, eine Gruppe erhielt kaum Strahlentherapie und eine Gruppe lag in der Mitte. Und dann vergleichen wir diese drei Gruppen. Wir fanden heraus, dass ältere Patienten nur wenige lokale Rückfälle entwickelten. Und wir konnten sehen, dass wir die Strahlentherapie bei ausgewählten Patientinnen in bestimmten Gruppen von Patienten – mit sehr kurzer Lebenserwartung – weglassen können. Dies gilt auch für die Chirurgie. In der Regel wird nur eine Hormonbehandlung verschrieben.

Und bei der Chemotherapie ist das noch offen. Es ist schwer, das in Beobachtungsstudien herauszufinden. Aber wir haben es in internationalen Vergleichen von Darmkrebspatienten gesehen. Wir haben Länder miteinander verglichen und uns angeschaut, wie hoch der Anteil der verabreichten Chemotherapie ist. Und dann haben wir untersucht, ob wir denselben Trend beim Überleben feststellen konnten. Aber das haben wir nicht gesehen. Es scheint also keinen Zusammenhang zwischen Chemotherapie und Überleben zu geben. Aber das ist ein wirklich heikles Thema und schwer in Beobachtungsdaten zu untersuchen.

Bei Hautkrebs (Melanom) haben wir uns die Lymphknotenbiopsie angesehen. Das ist ein Verfahren, mit dem man feststellen kann, ob Patienten mit Melanomen Lymphknotenmetastasen haben. Hierbei sieht man sich die erste Lymphknotenmetastase an. Hier haben wir festgestellt, dass ältere Patienten seltener eine Lymphknotenbiopsie bekommen. Obwohl sie diese eigentlich genauso oft bekommen sollten wie jüngere Patienten.

Eine Behandlungsmöglichkeit bei Hautkrebs ist die Immuntherapie. Diese scheint genauso wirksam zu sein wie bei jüngeren Patienten und weniger Nebenwirkungen zu haben. Und das ist gut so, denn die Chemotherapie hat beim Hautkrebs keine große Wirkung. Es handelt sich also um eine gute Alternative. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich immer noch um eine Auswahl von Patienten handelt, bei denen sich der Arzt für eine Immuntherapie entschieden hat. Immuntherapien müssen also unbedingt erprobt werden.

Hast du diese so erwartet und gab es auch Ergebnisse, die dich besonders überrascht haben?

Ja, ich persönlich war vor allem am Anfang meiner Recherche überrascht. Ältere Menschen sterben häufiger an anderen Krankheiten, auf der anderen Seite jedoch sieht man auch, dass sie immer noch ein schlechteres krebsspezifisches Überleben haben. Und das war wirklich eine grosse Überraschung. Wir hatten klinische Studiendaten, in die auch einige ältere Menschen eingeschlossen waren. Selbst in diesen Studien konnte man sehen, dass bei Brustkrebs im Frühstadium ältere Patientinnen eine höhere brustkrebsspezifische Sterblichkeit aufwiesen. Das hat mich überrascht, muss ich sagen. Das hatten wir so nicht erwartet.

Das Überraschende ist, dass wir immer noch nicht viel über diese Gruppe – der älteren Patienten – wissen. Es gibt also noch viel Raum für Verbesserungen.

Deine Forschung und deren Ergebnisse dienen ja schlussendlich den Patienten und Patientinnen.

Was bedeuten sie für die älteren Menschen mit Krebs in der Zukunft?

Es gibt drei Punkte: 

Erstens wollen wir im Hinblick auf die Behandlung zu einer personalisierten medizinischen Behandlung kommen. Vor allem ältere Menschen sind sehr unterschiedlich: So gibt es sehr fitte ältere Patientinnen und Patienten, die alle Behandlungen erhalten können. Natürlich nur, wenn sie dies wollen. Und dann gibt es verletzliche Patienten. Sie brauchen eine sanftere Behandlung oder eine geringere Behandlung oder eine Reduzierung der Behandlung oder etwas ganz Anderes.

Und zweitens hoffen wir, uns auf patientenbezogene Ergebnisse konzentrieren zu können. Die meisten Studien konzentrieren sich auf das Überleben, die Prognose und tumorbezogene Ergebnisse. Jedoch haben wir einige Fokusgruppendiskussionen mit Brustkrebspatientinnen durchgeführt: Sie halten das Überleben natürlich immer noch für wichtig. Der Schwerpunkt liegt jedoch mehr auf praktischen Aspekten, wie beispielsweise „Kann ich noch zu Hause wohnen?“. Ich denke also, dass es eine Verlagerung hin zu mehr patientenbezogenen Ergebnissen in den Studien geben sollte. Ich bin der Meinung, wir sollten die Patientinnen und Patienten wirklich befragen: „Was wollen Sie?“, „Was ist für Sie wichtig?“

Und drittens hoffe ich, dass wir einige randomisierte, kontrollierte Studien mit dieser Patientengruppe durchführen können, um wirklich eine solide Datenbasis zu erhalten. Das ist wirklich wichtig.

Esther Bastiaanne

Das Interview führte Anne Borchard

Titelbild: Oxana Melis auf Unsplash