«Beide wollen eigentlich darüber reden. Und beide tun es nicht.»

«Beide wollen eigentlich darüber reden. Und beide tun es nicht.»

Eine gesunde und ausgewogene Ernährung, ausreichend Bewegung sowie Entspannung wirken sich positiv auf die Lebensqualität der Menschen aus. Aber auch ein erfülltes Sexualleben und Intimität beeinflusst die Lebensqualität positiv. Dies gilt für gesunde als auch kranke Menschen gleichermassen. So auch für Menschen mit einer COPD und ihre Partnerinnen und Partner. Was und wie genau das EBPI zu diesem Thema untersucht, berichten die Lungenfachärztin Claudia Steurer-Stey und Kaba Dalla Lana, praktizierende Lungenphysiotherapeutin, im Interview.  

Was habt ihr untersucht und wie seid ihr vorgegangen?  

Claudia: Wir haben das Tabuthema Sexualität als wichtigen Aspekt von Lebensqualität bei älteren Menschen mit einer chronisch obstruktiven Lungenkrankheit (COPD) untersucht. Auslöser war ein persönliches Erlebnis von Kaba.

Kaba: Im Rahmen des Programms «Besser leben mit COPD» erlebte ich Folgendes: Bei diesem Programm coachen wir COPD-betroffene Menschen in der Gruppe und besprechen verschiedene Massnahmen zur Unterstützung des Alltags. Zum Beispiel, wie man sich zu regelmässiger Bewegung motivieren kann. In einem dieser Kurse sagte plötzlich ein Teilnehmer: «Also ich motiviere mich, indem ich mich mit Sex belohne». Anschliessend war es zuerst ruhig im Raum. Dann ging ein Raunen durch die Gruppe. Schlussendlich habe ich dann gemerkt, dass die Menschen unter sich – die Betroffenen – ganz gut über das Thema reden konnten. Sie waren sehr interessiert und fragten den Teilnehmer: «Wie machen Sie denn das?» Dann habe ich gemerkt, dass diejenige mit dem grössten Problem über das Thema zu sprechen eigentlich ich war. Ich war überfordert, gut zu reagieren. Und dann habe ich überlegt «Was ist das, was mich überfordert?». Und letztendlich habe ich gemerkt, dass ich einfach nicht die richtigen Worte gefunden habe, um in der Gruppe über Sexualität und Intimität zu sprechen.

Claudia: Und dann war klar, wir brauchen ein Instrument, dass die Kommunikation und Beratung rund um Sexualität bei Menschen mit COPD erleichtert.

Erst einmal haben wir dann genau das gemacht, was man in der Wissenschaft sonst auch bei neuen Themen macht: Eine Literatursuche. Wir haben nach Literatur zu Sexualität bei COPD gesucht. Um genauer zu sein, zum Thema «Kommunikation über die Sexualität» und «Kommunikationsinstrumente zur Unterstützung der Kommunikation». Hierfür haben wir die Literatur über die letzten 30 Jahre durchsucht. Letztendlich haben wir wenige Studien zu diesem Thema gefunden.

Auch führten wir eine Umfrage bei Gesundheitsfachpersonen und bei Menschen mit einer COPD durch. Wir befragten sie zu ihrer Einstellung, ihren Erfahrungen und Hindernissen und Erleichterungen bei Gesprächen über Sexualität.

Die Ergebnisse der Umfrage und die der Literatursuche diskutierten wir anschliessend mit einer Expertengruppe. Diese setzte sich aus Vertretern des Gesundheitswesens und Menschen mit COPD zusammen. Gemeinsam erarbeiteten wir das Kommunikationsinstrument COSY (COPD and SexualitY).

Aus diesem Kommunikationsinstrument entstanden vier Hilfsmittel: eine Kommunikationsbroschüre, ein Anwendungsleitfaden, eine bildliche Darstellung für Fachkräfte und ein bebildertes Informationsheft für Patientinnen und Patienten.

Das Programm «Besser leben mit COPD» habe ich auch am Zürcher Präventionstag im Februar vorgestellt. Der Präventionstag wird von Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich in Zusammenarbeit mit Radix einmal im Jahr organisiert.

Was waren genau die Ergebnisse eurer Umfrage?  

Claudia: Bei unserer Umfrage haben wir 25 Menschen mit COPD mit allen Schweregraden und 36 Ärzte und andere Gesundheitsfachpersonen befragt. Die Hauptmessage war: «Beide wollen eigentlich darüber reden. Und beide tun es nicht.»

Das heisst, Menschen mit einer COPD möchten über Sexualität und Intimität sprechen? Und sprechen sie das Thema beim Arzt oder der Gesundheitsfachperson auch selbst an? 

Claudia: Ja, mehr als 50% der COPD-Betroffenen möchten über Sexualität und Intimität sprechen. Wir haben aber den Eindruck, wir Fachpersonen sind nicht so parat. Wir müssen unsere Barrieren abbauen und eine Atmosphäre und einen Raum schaffen, in der sich die Menschen mit COPD wohl fühlen. Nur dann trauen sich die Menschen mit COPD, uns Fachpersonen anzusprechen.

Kaba: Unsere Umfrage zeigte, dass COPD-betroffene Menschen selbst das Thema nicht ansprechen. Patienten sagen oft: «Das hat ja irgendwie keinen Platz». Und sie finden die Worte nicht.

Sind Ärzte oder Gesundheitsfachpersonen auf das Thema sensibilisiert und sprechen es an?

Kaba: Ja, sensibilisiert sind sie schon. Allerdings haben Gesundheitsfachpersonen Hemmungen, dieses Thema anzusprechen. So erzählte mir ein Arzt: «Ich fühle mich unwohl dabei. Einerseits weil ich nicht über genügend Expertise zum Thema verfüge und andererseits fühle ich mich persönlich einfach unwohl».

Hat euch etwas bei den Ergebnissen besonders erstaunt?  

Kaba: Ja. Vielleicht das Missverständnis, dass die Betroffenen auf der einen Seite gerne angesprochen werden würden. Und auf der anderen Seite die ärztliche oder medizinische Fachperson, die nicht sicher ist, ob der ältere Mensch überhaupt noch Bedürfnisse nach Intimität hat und ob sie ihn überhaupt darauf ansprechen sollen. Viele Fachpersonen denken: «Das ist sicher nicht mehr relevant». Dieses Missverständnis hat mich am meisten erstaunt.

Was unterscheidet sich bei Menschen mit einer COPD und ihren Partnerinnen und Partnern in Bezug auf Sexualität und Intimität?

Claudia: Im Wesentlichen nichts. Der Mensch hört im Alter oder mit einer Krankheit nicht auf, ein sexuelles Wesen zu sein. Im Gegenteil. Dieses breite Spektrum an Nähe und Wärme ist ja eine wichtige Ressource – gerade bei einer Krankheit oder im Alter. Sexualität und Intimität ist ein grosses Bedürfnis. Auch die ELSA (English Longitudinal Study of Ageing) Studie zeigt, dass über 60-Jährige noch sexuell aktiv sind und seien wollen. Natürlich lässt das Bedürfnis im Alter aufgrund von physiologischen Veränderungen, wie beispielsweise einem veränderten Hormonspiegel, automatisch ein bisschen nach. Aber der Grossteil der über 60-Jährigen erachtet Sexualität und Intimität als wichtig in ihrem Leben. Und wollen es leben. Das gilt auch für Menschen mit COPD.

Haben Menschen mit COPD spezielle Ängste?

Claudia: Ja. Sowohl Betroffene als auch ihre Partnerinnen und Partner können Ängste haben. Rein krankheitsspezifisch ist es v.a. das Leitsymptom «Atemnot», das Angst macht. So haben viele Partnerinnen und Partner Bedenken, durch sexuelle Aktivität den Zustand zu verschlechtern. Einige Betroffene fühlen sich manchmal nicht mehr attraktiv genug für ihren Partner. Deshalb ist es wichtig, über diese Ängste zu sprechen. In dem Sinne, dass man sagt: «Eine gewisse Atemnot ist normal.» Jemand der keine COPD hat und sich körperlich betätigt, verspürt je nach Kondition ab einer gewissen Intensität auch Atemnot. Es gibt unterstützende Massnahmen, die die Atemnot reduzieren helfen.

Kaba: Gerade bei dem Leitsymptom «Atemnot» gibt es ganz viel Skills und Techniken, mit denen man die Atemnot reduzieren kann. Zum Beispiel durch spezielle Atemtechniken, wie Lippenbremse. Auch vermindert das richtige – direkt vor einer körperlichen Anstrengung – angewandte Inhalieren die Atemnot. Eine zentrale hilfreiche Massnahme sowohl bei COPD betroffenen Menschen als auch Lungengesunden ist das regelmässige körperliche Training.

Und wie geht es nun weiter?

Kaba: Jetzt geht es darum, das Instrument – den COSY-Anwendungsleitfaden für Fachpersonen – tatsächlich zu testen. Kann dieser die Lebensqualität von Menschen mit COPD wirklich verbessern? An der Studie können Menschen mit COPD, die über 60 Jahre alt sind, Deutsch verstehen, drei Monate Zeit haben und in einem stabilen Krankheitszustand sind, teilnehmen. Bei der Intervention handelt es sich um eine Gesprächsintervention mit der Fachperson – entweder mit Claudia oder mir.

Claudia: Die Teilnehmenden müssen offen über Emotionen und Sexualität und über ihre Bedürfnisse nach Nähe, Berührung und Intimität sprechen können.

Und was ist genau das Ziel?

Claudia: Wir möchten die Lebensqualität und das ganzheitliche Wohlbefinden der Menschen mit COPD verbessern. Wir möchten schauen: «Wie bringen wir COPD betroffene Menschen dazu, über diese Themen zu sprechen?» Zusätzlich möchten wir ihnen die Verbindung von regelmässiger körperlicher Aktivität und Sexualität aufzeigen. Denn eine grosse Herausforderung ist: Wie bringen wir Menschen mit COPD dazu, körperlich aktiv zu bleiben? Regelmässige körperliche Bewegung ist nebst dem Rauchstopp eine der wichtigsten Faktoren für eine bessere Krankheitsprognose. Vielleicht könnte die Aussicht auf eine verbesserte Sexualität ein Motivator sein, sich mehr und regelmässig zu bewegen.

Wie sieht genau die Intervention aus und wieviel Zeit muss ich als Patient hierfür einplanen?

Kaba: Insgesamt dauert die Intervention drei Monate. Da es sich um eine randomisierte kontrollierte Studie handelt, werden die Menschen mit COPD, die an der Studie teilnehmen, zufällig entweder der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Je nachdem in welche Gruppe die Patientin, der Patient eingeteilt wird, unterscheidet sich der zeitliche Aufwand.

Teilnehmende aus beiden Gruppen kommen zur Zuteilung zur Interventions- oder Kontrollgruppe und zu einer ersten Anfangs- und zu einer Abschlussmessung jeweils zu Beginn und am Ende der drei Monate ans EBPI. Die Teilnehmenden der Interventionsgruppe erhalten zusätzlich ein erstes persönliches Gespräch von 1,5 Stunden vor Ort am EBPI und 2 anschliessende Telefongesprächen von jeweils einer halben Stunde. Immer mit der gleichen Fachperson. Entweder Claudia oder mir. Diejenigen aus der Kontrollgruppe bekommen primär keine Intervention. Allerdings eine Kurzintervention am Schluss der Studie, sofern das von ihnen gewünscht wird.

Claudia: Und sie bekommen auch die Informationsbroschüre mit Informationen und Tipps & Tricks für eine hilfreiche Kommunikation und ihr Sexualleben.   

Wie muss ich mir genau die Treffen und Telefonate vorstellen?

Kaba: Im ersten Gespräch finden wir gemeinsam ihre Bedürfnisse und deren Hürden bzw. Einschränkungen heraus. Auch versuchen wir Massnahmen zu definieren, welche die Person ganz konkret umsetzen kann. Eine Massnahme könnte beispielsweise ein Gespräch mit dem Partner oder der Partnerin oder einer Vertrauensperson sein oder die Steigerung der körperlichen Aktivität. Nach einer bzw. drei Wochen fragen wir dann telefonisch bei der Person nach: Hat das geklappt? Konnten die Massnahmen umgesetzt werden? Oder was braucht es noch? Was müssen wir genau anpassen? Oder auch einen Schritt zurückzugehen und sich eingestehen: «Oh das hat nun doch noch nicht so gut geklappt». Hierfür sind das Treffen und die Telefonate so wichtig. Immer wieder an jedem Rädchen drehen und ganz genau durchsprechen, was sonst noch zu kurz kommt oder noch angepasst werden könnte, damit Hürden und Einschränkungen abgebaut und Massnahmen erfolgreich umgesetzt werden können.

Der Schlüssel zur Verhaltensänderung ist ja eine positiv erlebte Selbstwirksamkeit. Das hält die Motivation für eine Verhaltensänderung aufrecht. Das kann zu einer neuen Kraftquelle werden, die sie entdecken können.

Claudia: Dies kann dazu führen, dass ein gewünschtes Verhalten im Alltag wirklich regelmässig umgesetzt wird, was ein Nutzen für die Betroffenen ist und dafür ist der Aufwand der Studienteilnahme nicht sehr gross.

Erleben Sie Claudia Steurer-Stey und Kaba Dalla Lana live im Gespräch:

Hier können Sie sich über die Studie informieren und anmelden.

Interviewpartnerinnen:

         

Das Interview führte: Anne Borchard

Titelbild: Aline Telek