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Drei Fragen an Iren Bischofberger, Pflegewissenschaftlerin und Leiterin «work & care»

5. März 2020 | Martina Gosteli | Keine Kommentare |

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Die Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin Iren Bischofberger war massgeblich am Auf- und Ausbau der Careum Hochschule Gesundheit beteiligt. Zum einen baute sie mit ihrem interdisziplinären Team das Forschungs- und Entwicklungsprogramm «work & care – Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege» auf. Zum andern leitete sie von 2009-2019 den berufsintegrierenden Master of Science in Nursing mit den beiden Schwerpunkten «Angewandte Forschung» und «Klinische Exzellenz».

Prof. Dr. Iren Bischofberger über «work&care» und das Jahr der Pflegenden und Hebammen

Interview: Josef Kälin, Ursula Reis

Seit über zehn Jahren leitest du das Forschungs- und Entwicklungsprogramm «work & care», das in den letzten Jahren nicht nur fachintern, sondern auch in Medien und Politik auf grosses Echo gestossen ist. Was sind eure wichtigsten Erkenntnisse, und wie können sie in der Praxis umgesetzt werden?

Iren Bischofberger: Wir starteten 2006 auf dem weissen Blatt, und im September 2019 verabschiedete der Nationalrat das Bundesgesetz «Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung». Als ich 2006 den ersten Forschungsantrag schrieb, hätte ich nicht gedacht, dass wir so rasch auf Interesse stossen würden. Beim Schweizerischen Nationalfonds als erstem Geldgeber genauso wie bei Personalverantwortlichen, Gleichstellungsfachstellen, Führungspersonen, Arbeitgebenden, Gewerkschaften, Gesundheitsligen – und natürlich bei den betroffenen Erwerbstätigen selber. Diese sind ja selber auch in all den genannten Institutionen vertreten.

Wir wissen heute aus wiederholten Studien (1) dass zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz in dieser Vereinbarkeitssituation sind. Die Gesundheitsversorgung ist dabei mehrfach herausgefordert: Als Arbeitgeberin von Gesundheitsfachpersonen, die selber pflegende Angehörige sind (sogenannte „Double-duty Caregivers“) und als Leistungserbringerin, die Rücksicht nehmen sollte auf erwerbstätige Angehörige mit eingeschränkter Zeit für ihre Nächsten. Hinzu kommt, dass Mitarbeitende und Patienten oft nicht am selben Ort wie ihre Nächsten wohnen, gerade in Gesundheitsberufen, wo rund ein Drittel des Personals aus dem Ausland zugewandert ist. Videotelefonie und elektronische Patientendossiers können hier Angehörigen – berufstätig oder nicht – die Mitwirkung im Behandlungsverlauf erleichtern (sogenanntes «Distance Caregiving»). Da ist noch viel zu tun.

Zur Umsetzung in der Praxis haben wir als Fachhochschule von Anfang an grossen Wert auf unterschiedliche Kommunikationskanäle und Zusammenarbeit mit anderen Institutionen gelegt. Die ersten Praxispartner waren die Bank Cler und der Schweizerischen Alzheimervereinigung. Im Laufe der Jahre entstanden Webseiten, Broschüren, Blogs, Vorträge, Publikationen, Posters und Erklärvideos. Besonders hervorheben möchte ich die Webseite www.info-workcare.ch, die Travail Suisse zusammen mit einer Expertengruppe entwickelte.

Du kennst beide Seiten: Du hast langjährige Erfahrung als diplomierte Pflegefachfrau und bewegst dich heute in der Forschung und Lehre auf Hochschulniveau. Inwiefern profitiert die Praxis von der Pflegewissenschaft?

Iren Bischofberger: Ein Hochschulstudium erweitert den Horizont. Forschungs- und Literaturkenntnisse aus der grossen weiten Welt ergänzen das lokale Erfahrungswissen. Gleichzeitig schärfen Pflegende mit einem Hochschulstudium den Blick für aktuelle Gesundheitsprobleme, erkennen Zusammenhänge rasch, denken systemisch, arbeiten datengestützt. All diese Fähigkeiten werden im Gesundheitswesen immer wichtiger, sowohl in der klinischen Arbeit als auch in Führungspositionen, bei Bildungsaufgaben, in der Gremienarbeit. Das zeigt auch die rege genutzte Stellenbörse beim Schweizerischen Verein für Pflegewissenschaft.

Pflegeexpertise mit einem MSc in Nursing nützt Patientinnen und Patienten mit vielfältigen Diagnosen und Therapien. So hat zum Beispiel eine unserer berufstätigen Masterstudentinnen Kenntnisse erlangt zu Polypharmazie. Sie stellte beim Übertritt eines Patienten von der Intensivstation auf die Bettenstation eine Übermedikation einer Substanz fest und diskutierte diese Beobachtung mit dem Oberarzt. Zusammen passten sie die Therapie an. Wenige Tage später ging es dem Patienten besser. Immer mehr Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten mit Masterabschluss arbeiten in dieser patientennahen Rolle nach dem Motto „patients first“. Das ist eine wichtige Weiterentwicklung. Die Pflegewissenschaft war in der Schweiz in den letzten 20 Jahren vor allem in patientenfernen Rollen präsent, zum Beispiel in der internen Fortbildung, der Qualitätssicherung, in Fachgremien oder in der Forschung und in Projekten.

Wir führen dieses Interview anlässlich des «year of the nurse and midwife», dass die WHO für das Jahr 2020 ausgerufen hat. Was glaubst Du, braucht es, um die Pflegepraxis und -wissenschaft in der Schweiz zu stärken?

Iren Bischofberger: Aus meiner Sicht gibt es drei wichtige Punkte. Erstens müssen wir die Qualität noch viel stärker aus der Sicht der Nutzenden von Gesundheitsleistungen beleuchten. Was ist ihnen wichtig? Was läuft aus ihrer Sicht gut, was weniger? Konkrete Fragen dazu können zum Beispiel lauten: Wie hat sich Ihre Beweglichkeit zuhause nach einer Hüftoperation verbessert? Wie gut wurden Sie zu den neuen Medikamenten beraten? Was wurde zwischen den verschiedenen Leistungserbringern koordiniert, damit zuhause alles klappt? Die Bevölkerung wird durch solche Fragen aufmerksamer, dass die hohen Steuer- und Prämiengelder nicht nur für die «Hardware» (Spitäler, Pflegeheime, Medikamente) genutzt werden, sondern auch für die «Software», unter anderem für Beratung, Anleitung und Koordination durch Pflegefachpersonen.

Zweitens muss die Bevölkerung mehr über Behandlungs- und Pflegemöglichkeiten ausserhalb des Spitals wissen, vor allem am Gesundheitsstandort Privathaushalt. Hier verbringen gesundheitlich eingeschränkte Personen und ihre Angehörigen die allermeiste Zeit. Damit dies gelingt, braucht es noch viel mehr alltagstaugliche Beratung und Anleitung, sowohl vor Ort im Wohnzimmer als auch über Videotelefonie oder eLearning. Dazu sind auch modernere Vergütungssysteme nötig, dass zum Beispiel nicht einfach das Blutdruckmessen bezahlt wird, sondern die korrekte Beratung im Umgang mit Bluthochdruck – übrigens eines der grössten heutigen Gesundheitsprobleme.

Schliesslich sind die Arbeitsbedingungen in der Gesundheitsversorgung noch zu wenig familienfreundlich, damit die Mitarbeitenden länger und mit höheren Pensen im Beruf bleiben. Es bringt zu wenig, wenn mehr Ausbildungsplätze in der Pflege geschaffen werden, aber der Effekt danach zu wenig greift. In einer Frauenbranche – und da gehören die Hebammen ja auch dazu – ist die Vereinbarkeit besonders wichtig, auch für die Ehe- und Lebenspartner. Mit Teilzeitarbeit alleine ist es gemäss unseren Forschungsergebnissen nicht getan. Es braucht umfassende Vereinbarkeitsprogramme mit allen nötigen Puzzleteilen.

Ursula Reis und Josef Kälin sind Fachreferenten der Hauptbibliothek – Medizin Careum

  1. Radvanszky, A., Craviolini, J., & Bischofberger, I. Erwerbstätige mit privaten Pflegeaufgaben am Beispiel zwei schweizerischer Unternehmen. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 42(3), 543–571.
  2. Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien BASS AG, im Auftrag des Direktionsbereichs Gesundheitspolitik, Abteilung Gesundheitsstrategien, BAG. Massnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung in Unternehmen der Schweiz. Bern: September 2019.

Weitere Publikationen von Iren Bischofberger auf der Webseite der Careum Hochschule Gesundheit

Abgelegt unter: AusstellungenHBZ – Medizin Careum
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