«Jede Bewegung zählt» - Bewegungsempfehlungen für ältere Menschen 

 «Jede Bewegung zählt» – Bewegungsempfehlungen für ältere Menschen 

«Bewegungssnacks» sind spätestens seit Anfang September 2023 in aller Munde. In der Aktionswoche zu den neuen Bewegungsempfehlungen von hepa.ch wurde jeden Tag eine Bewegungschallenge ausgewählt. Ganz unter dem Motto «Jede Bewegung zählt» und «Langanhaltendes Sitzen ist ungesund». Dies gilt für alle Altersgruppen. Je nach Alter werden allerdings verschiedene Bewegungsarten und in unterschiedlicher Intensität dem Einzelnen empfohlen. Wie genau die Bewegungsempfehlungen für ältere Menschen aussehen und auf was sie insbesondere achten sollten, berichten Anja Frei und Thomas Radtke im Interview mit ges.UND? 

Was ist neu an den Bewegungsempfehlungen der Schweiz?  

Anja: «Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die globalen Bewegungsempfehlungen auf Grundlage neuster Studien und Übersichtsarbeiten und deren Evidenz 2020 aktualisiert. Es gibt viel mehr Studien und somit mehr Daten im Vergleich zur alten WHO-Richtlinie von 2010. Diese Studien basieren auf objektiv gemessener körperlicher Aktivität, die Aktivität deutlich genauer abbildet als Fragebögen. Somit können sie die Auswirkungen der Bewegung auf die Gesundheit bzw. auf Erkrankungen und die Sterblichkeit exakter erheben. Auch gibt die WHO neu Empfehlung zum Umgang mit sitzendem Verhalten. Erstmal gibt es Bewegungsempfehlungen für Schwangere, Menschen mit chronischen Krankheiten und Menschen mit Behinderung. 

Auf Basis dieser neuen globalen Bewegungsempfehlungen wurden die Schweizer Bewegungsempfehlungen aktualisiert. Die Hauptänderungen der neuen Schweizer Bewegungsempfehlung lautet: `Jede Bewegung ist besser als keine. Jeder Schritt zählt.` Das ist die Hauptaussage in den Schweizer- und den WHO-Empfehlungen. Früher wurde gesagt: `Gesundheitsrelevante Bewegung dauert mindestens 10 Minuten`. Jetzt hat man gesehen, dass jede Bewegung besser als keine Bewegung ist.» 

Thomas: «Deshalb wurde die Zeitangabe von mindestens 10 min Aktivität ganz aus der neusten Empfehlung herausgenommen. Zum Beispiel ist es besser, 20-mal die Treppe bei sich zu Hause über den Tag verteilt hochzulaufen als dafür den Lift zu nehmen. Auch wenn das Treppensteigen jeweils weniger als 10 Minuten dauert, hat dies einen Effekt auf die Gesundheit. Daher ist man von der starren Zeitangabe von 10 Minuten am Stück weggekommen. Und ich finde den Slogan wirklich motivierend: `Jede Bewegung zählt`. Denn der spricht genau diejenigen an, die Bewegungsmuffel sind. Und die wollen wir ja idealerweise erreichen. Und ich glaube genau das ist eine riesige Herausforderung: `Wie schaffen wir es, auch die Bewegungsmuffel zu mehr Aktivität zu motivieren? `. Genau hier kann es helfen zu sagen: `Nimm die Treppe statt den Lift` oder `Steig eine Haltestelle früher aus der Tram und laufe eine Station`. Dieses bisschen mehr Bewegung hat bereits gesundheitswirksame Effekte.»

Abbildung 1: Dosis-Wirkungsbeziehung (adaptiert von World Health Organization. WHO guidelines on physical activity and sedentary behaviour. Geneva; 2020.) Quelle: Bewegungsbericht Schweiz

Warum sollten wir uns in jedem Alter regelmässig bewegen?  

Anja: «Weil Bewegung in jedem Alter gesund ist. Messungen zeigen, dass diejenigen Menschen, die bisher kaum oder nur wenig aktiv waren, am meisten von ein bisschen mehr Bewegung profitieren. Und die Evidenz zeigt den grössten Gesundheitsnutzen, wenn man sich mindestens 150 bis 300 Minuten in der Woche mit mittlerer Intensität bewegt oder 75-150 Minuten mit hoher Intensität oder in Kombination. Dies ist schön in der Dosis-Wirkungsbeziehung-Graphik veranschaulicht, die den Nutzen für die Gesundheit pro Bewegungsminuten pro Woche darstellt und wissenschaftliche Erkenntnisse visualisiert (Abbildung 1). Und neben der Hauptaussage: `Jeder Schritt zählt` rückt nun auch langanhaltendes Sitzen in den Fokus. Je weniger wir Sitzen, um so besser. Man kann, wenn man sehr lange am Tag sitzt, den negativen Effekt auf die Gesundheit abschwächen und sogar aufheben, wenn man sich sehr viel bewegt. Aber es braucht dann relativ viel Bewegung. Deshalb sind die zwei zentralen Aussagen der Bewegungsempfehlung: `Langanhaltendes Sitzen ist ungesund` und `Jede Bewegung ist besser als keine`.»

Thomas: «Sitzen ist aus den folgenden Gründen ungesund: Wenn wir lange sitzen, bewegen wir unsere Muskeln nicht und der Glucose- und Fettstoffwechsel wird nicht angeregt. Und auch nicht die neuronale Aktivität. Langanhalte sitzende Tätigkeit ist mit der Anhäufung von kardiovaskulären Risikofaktoren verbunden. Deshalb sollten wir kleine – sogenannte `Bewegungssnacks` in den Alltag einbauen. Das lange Sitzen wird immer mehr verteufelt. `Sitzen ist das neue Rauchen` hört man immer wieder. Ich weiss nicht, ob man diese Allegorie so 1:1 machen kann. Eigentlich ist der Mensch darauf ausgelegt jeden Tag mehrere Kilometer zu laufen. Das ist völlig normal. Und die Gene haben sich über die letzten Jahrhunderte nicht massgeblich verändert. Aber rings um uns herum passiert so viel: Durch die ganze Industrialisierung, Maschinen, neue Transportmittel, die uns die Arbeit abnehmen und Passivität fördern. Wir verkümmern und unsere Muskeln werden schwächer. Und das ganze System Körper, das eigentlich auf Bewegung ausgerichtet ist.»

In den Bewegungsempfehlungen wird das «Konzept der relativen Intensität» vorgestellt. Was heisst das genau und inwiefern ist das wichtig bei den Bewegungsempfehlungen älterer Menschen? 

Anja: «Dieses Konzept gilt nicht nur für ältere Erwachsene, sondern auch für Kinder und Jugendliche und für Erwachsene jeden Alters. Für alle gilt das. Für mich ist es sehr gut verständlich mit der Erklärung `Ins Schnuufe und Schwitzen kommen`, die sich auf Aktivitäten mit mittlerer und hoher Intensität beziehen. So kommen vermutlich ältere Menschen viel schneller ins `Schnuufe` wie eine fitte 25-jährige Person. Dieses Bewusstsein: `Wenn ich ins `Schnuufe` komme, ist das gut für meine Gesundheit`, unabhängig vom Alter und der Bewegung, ist zentral. Dies versteht man unter dem `Konzept der relativen Intensität`.»

Thomas: «Man sagt auch bei moderater Intensität als Faustregel, dass man sich bei dieser Bewegungsintensität noch unterhalten kann. Wenn du das nicht mehr kannst, dann bist du schon im intensiven Bereich. Das ist dann das Äquivalent der Bewegungsempfehlungen, bei der sich die Zeit pro Woche fast halbiert. Und diese intensive Bewegung kannst du nicht unbedingt so von der älteren Bevölkerung abverlangen. Natürlich gibt es bei der älteren Bevölkerung schon auch noch Menschen, die mit 75 oder 80 Jahren supersportlich sind und ihre Kilometer auf dem Rennvelo abfahren. Aber dies ist ja für viele ältere Menschen nicht möglich. Einige haben zum Beispiel eine Osteoporose oder sind übergewichtig; so dass die 75 Minuten intensive Bewegung für sie nicht mehr möglich.» 

Abbildung 2: Empfohlene Zeiten für wöchentliche Bewegung für ältere Erwachsene. Quelle: Bewegungsbericht Schweiz

Wie könnte eine ideale Bewegungswoche für einen 65-jährigen Menschen genau aussehen? 

Anja: «Laut den Bewegungsempfehlungen für die Schweiz soll ein Erwachsener sich mindestens 150-300 Minuten moderat oder 75 Minuten intensiv bewegen, sowie an zwei oder mehr Tagen Kraftübungen machen. Bei über 65-jährigen Menschen wird neben Kraft auch Gleichgewicht und die Sturzprävention wichtig. Letztendlich ist es völlig egal, was ältere Menschen machen. Beispielsweise können die älteren Menschen 20-25 Minuten täglich mit dem Hund spazieren gehen. Darunter fällt aber auch Haus- und Gartenarbeit, Wischen, zügig aufs Tram laufen oder Velo fahren. Für das Krafttraining können die älteren Menschen zum Beispiel Treppen steigen. Treppensteigen fördert nebst der Kraft auch das Gleichgewicht und ist für die Sturzprävention gut. Diese Aktivitäten sollen an mindestens 2 Tagen die Woche von den über 65-Jährigen gemacht werden. Das ist auch eine Kernaussage der neuen Bewegungsempfehlungen (Abbildung 2). Im Booklet finden sich Übungsideen und Tipps, wie man Bewegung im Alltag integrieren kann. Ein videobasiertes Programm für Kraftübungen und Balanceübungen für zu Hause ist auch HOMEX. Dieses selbsterklärende Programm wurde von uns, einem Team der Universität Zürich, entwickelt und richtet sich an ältere Personen. Die Übungen können je nach Trainingszustand angepasst werden. Durch die Videos ist das Programm niederschwellig jederzeit zu Hause durchführbar und im Alltag integrierbar.» 

Thomas: «Die über 65-Jährigen können sich auch einer Laufgruppe anschliessen, beispielsweise ZÄMEGOLAUFE. Und hier 2–3-mal die Woche gemeinsam mit Gleichaltrigen moderat laufen und das mit sozialen Aktivitäten kombinieren. Diese soziale Integration ist für mich einer der wesentlichsten Punkte. Es tut den Menschen wahrsinnig gut, dass sie rauskommen, gemeinsam etwas an der frischen Luft unternehmen. Und das dort, wo sie wohnen. Und so haben sie schon diese 150 -300 Minuten moderate Bewegung in ihrer Woche integriert. Im ersten Moment hören sich dies nach viel an. Wenn man es dann jedoch auf den Tag runterbricht, dann ist es gar nicht so viel. Ich glaube, dass Krafttraining eher als etwas Formaleres wahrgenommen wird. Aber selbst einfache Kraftübungen kann man gut zu Hause machen; indem man z.B. mehrmals am Tag die Arme seitlich ausstreckt und für 15 Sekunden hält. Schwieriger wird es zum Beispiel mit zwei gefüllten Wasserflaschen. Es braucht auch hier wieder nicht viel.

Abbildung 3: Beispiele für Kräftigungs- und Balanceübungen. Quelle: Booklet für ältere Menschen von hepa.ch

Gibt es Bewegungsarten, die insbesondere älteren Menschen empfohlen werden? 

Anja: «Die gesundheitsrelevanten 150 Minuten moderate Aktivität sind bei älteren Menschen vielleicht besser umsetzbar als die 75 Minuten intensive Aktivität pro Woche. Moderat aktiv ist man bereits, wenn man – wie schon erwähnt – den Haushalt macht, Wäsche wäscht, spazieren geht oder die Treppen läuft. Hier geben die Booklets auch noch Tipps. Im Alter möglichst lange selbständig leben zu können, kann eine sehr hohe Motivation für mehr Bewegung für ältere Menschen sein. Denn am erfolgversprechendsten ist es, wenn der Nutzen von Bewegung für die Menschen konkret spürbar ist. Wenn sie merken, dass es ihnen nach der Aktivität besser geht, das ist der grösste Motivationsfaktor.»

Thomas: «Gerade für diese Zielgruppe ist die Sturzprophylaxe enorm wichtig. Das ist auch wissenschaftlich sehr gut belegt. Nicht auf andere Hilfe angewiesen zu sein, wie beispielsweise beim Einkaufen. Das können oftmals ganz banale Kräftigungs- oder Balanceübungen sein – wie beispielsweise der `Flamingostand` beim Zähneputzen oder `Schaukle dir die Wartezeit weg` aus dem Booklet (Abbildung 3). Und das ist so simpel. Wenn man sich das einprägt, und es zu einer Routine und im Alltag integriert wird, dann wird es gar nicht mehr als Training oder Sport wahrgenommen.»

Gibt es etwas, was euch besonders an den neuen Bewegungsempfehlungen und insbesondere für die älteren Menschen ab 65 Jahren erstaunt hat? 

Anja: «Als ich neu mich in die Thematik eingearbeitet habe, war ich am Anfang erstaunt, wieviel evidenzbasierte Wirkung körperliche Aktivität hat. Eben, dass die Leute länger leben oder das Auftreten von chronischen Erkrankungen verhindert oder deren Verlauf verzögert werden kann. Und Effekte, die nicht unmittelbar naheliegend sind. Beispielsweise beeinflusst Bewegung die kognitive Leistungsfähigkeit, die psychische Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden positiv. Sie kann zum Beispiel konkret bei einer Depression helfen. Die Auswirkungen sind sehr umfangreich.»

Thomas: «Und Inaktivität gehört zu den führenden Risikofaktoren für Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten. Neben Rauchen, Bluthochdruck bzw. kardiovaskulären Erkrankungen und Krebs. Wir könnten weltweit wahnsinnig viel Geld und Ressourcen sparen, wenn man körperliche Aktivität wie ein Medikament verschreiben würde. Also was, wie häufig, mit welcher Intensität. Aber für viele Leute ist es einfacher z.B. ein Blutdrucksenkendes Medikament zu nehmen oder neuerdings auch Pillen zum Gewicht abnehmen. Für viele bedeutet aktiv zu sein eine Verhaltensänderung. Das ist viel aufwendiger, als 2 Pillen pro Tag zu schlucken. Obwohl sich der Blutdruck und auch das Körpergewicht auch auf natürliche Weise – sprich durch eine Kombination von Bewegungs- und Ernährungsumstellung – positiv beeinflussen lies. Das heisst mit einem gesunden, aktiven Lebensstil kann viel für die Gesundheit getan werden. Und es ist nie zu spät mit Bewegung anzufangen.» 

Anja: «Je früher ein Bewegungsverhalten erlernt wurde, um so besser.  Insbesondere sind Eltern ein grosses Vorbild für die Kinder. Ihr Verhalten prägt das Verhalten ihrer Kinder wesentlich. Und ganz wichtig sind die positiven Effekte von Bewegung zu betonen: `Mir geht es besser durch Bewegung, es tut mir gut` oder `Durch Bewegung kann ich auch im hohen Alter noch selbständig zu Hause leben und bin nicht auf Hilfe angewiesen`.»

Thomas: «`Wirklich jeder Schritt zählt – jede Unterbrechung des Sitzens mit `Bewegungssnacks` sind gut – ganz unabhängig vom Alter `, das hat mich am meisten beeindruckt.»

Interviewpartner:

Das Interview führte: Anne Borchard

Bilderquellen: hepa.ch